Das Märchen des «Asylchaos»

Ein Kommentar, erschienen am 10. September 2015 in der Südostschweiz.
Seit Wochen versucht die SVP, ein «Asylchaos» herbeizureden. Und schaltet grosse Zeitungsinserate, in denen sie behauptet, als einzige Partei zu garantieren, dass Zuwanderung begrenzt wird und Missbräuche im Asylwesen beseitigt werden. Tatsache ist: Gleich in zweierlei Hinsicht entspricht dies nicht der Wahrheit.
Erstens ist der Problembefund falsch. Von einem «Asylchaos» ist die Schweiz meilenweit entfernt. Hier herrscht kein Notstand. Er herrscht anderswo: in Syrien vor allem, aber auch in anderen Kriegsherden. Und in den umliegenden Ländern, die selbst wenig haben und jetzt noch für ihre geflüchteten Brüder sorgen müssen. Es stimmt: Die Welt ist gefordert wie selten, weil sich 60 Millionen Menschen auf der Flucht befinden, so viele wie nie mehr seit dem Zweiten Weltkrieg. Und ja: Auch die Schweiz ist gefordert. Gefordert, endlich den ihr möglichen Beitrag zu leisten, um das Leiden der Flüchtlinge zu mindern. Bisher kaum gefordert aber sind wir mit der Unterbringung und Betreuung der Flüchtlinge. Denn wer behauptet, die Schweiz sei gegenwärtig mit der «Flut» der Flüchtlinge am Anschlag, verkennt: Im Kosovokrieg hatte sich unser Land um doppelt so viele Flüchtlinge zu kümmern. Gerade einmal 30 000 der erwähnten 60 Millionen Menschen haben bisher in der Schweiz Zuflucht gesucht – jeder Zweitausendste.
Im Prinzip ist nur schon dies beschämend: Die Schweiz, einst nicht nur wegen ihres Wohlstands ein Ziel, sondern auch als Wiege der Menschlichkeit und dank ihrer humanitären Tradition, ist für Flüchtlinge nicht mehr attraktiv. Das von der SVP geschürte und von der Stimmbevölkerung wiederholt bestätigte Klima der Kälte wirkt, in Kombination mit einem rigiden Asylsystem, abstossend. Menschen in Not versuchen heute lieber, nach Deutschland, Grossbritannien oder Schweden zu gelangen.
Zweitens flunkert die SVP, wenn sie behauptet, als einzige Partei Lösungen bereitzuhalten. Vielmehr wollte sie sich gestern nicht einmal auf die Debatte der Asylreform einlassen. Obwohl die Reform die Verfahren verkürzt und so eine ihrer Kernforderungen erfüllt.
Geradezu tragisch ist es, dass die Wähler dieses Trauerspiel zu belohnen scheinen. Wäre am 21. August gewählt worden, hätte die SVP laut dem neuesten SRG-Wahlbarometer um 1,4 Prozentpunkte zugelegt.
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