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Die Schadensbilanz
Ignazio Cassis hat die Aussenpolitik so schnell und so radikal umgekrempelt wie keiner vor ihm. Er hat bewährte Werte über Bord geworfen und eine Panne nach der anderen produziert. Jetzt ist der Bundesrat in Panik wegen seiner möglichen Abwahl. In seinem Departement hofft man darauf.
Eine Schadensbilanz, erschienen am 3. Dezember 2019 im Onlinemagazin Republik.
Er ist in die Defensive geraten. Und spürbar verzweifelt. Schon im September erzählten Parteikollegen und enge Mitarbeiterinnen aus dem Aussendepartement, Ignazio Cassis fürchte sich davor, abgewählt zu werden. Am Abend des 20. Oktobers aber, als der für schweizerische Verhältnisse epochale Wahlsieg der Grünen feststand, habe sich seine Anspannung in Panik verwandelt. (…)
Der 58-Jährige hat in den Wahlkampfmodus geschaltet. Vorsorglich macht er sich in Interviews zum Opfer einer Mehrheit, die mit Minderheiten nicht umzugehen wisse. Als Tessiner sei er benachteiligt, das spüre er als Bundesrat so stark wie nie zuvor. «Die Minderheiten sind sympathisch für die 1.-August-Reden», sagt er. «Wenn es aber um Machtteilung geht, spielen sie keine Rolle mehr.» Zur Zielscheibe sei er geworden, weil er einer anderen Kultur und Sprachregion entstamme. Die Herkunft unterscheide ihn von seinen Bundesratskolleginnen. «Und Unterschiede stören.»
Stimmt das? Und falls ja: Ist es die ganze Wahrheit? Oder ist es doch primär Cassis’ Politik, ist es seine Amtsführung?
Die Republik hat in den vergangenen drei Monaten mit mehr als einem Dutzend ehemaligen und aktiven Diplomaten gesprochen, mit diversen Angestellten des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), mit langjährigen Beobachterinnen der Aussenpolitik, Wirtschaftsvertretern, Gewerkschafterinnen und FDP-Mitgliedern.
Das Bild, das sich aus diesen Gesprächen ergibt: Niemand hat die Schweizer Aussenpolitik jemals in so kurzer Zeit so grundlegend umgekrempelt wie Ignazio Cassis. Gemeinsam mit seinem Generalsekretär und ehemaligen Geheimdienstchef Markus Seiler, der zu einer Art Schattenminister geworden ist, spielt er seit gut zwei Jahren Powerplay: gegen die eigenen Diplomaten, gegen seine Bundesratskolleginnen, gegen bewährte Werte der Schweizer Aussenpolitik.
Methode Martullo
Sie gehört zum innersten Zirkel der SVP, ist eine mächtige Unternehmerin, reicher als alle anderen Parlamentarier zusammen. Ihr Wahlkampf? Ein Lehrstück in Menschenfängerei. Wer ist Magdalena Martullo?
Eine Annäherung an die Blocher-Tochter, erschienen am 21. September 2019 im Onlinemagazin Republik und geschrieben gemeinsam mit Anja Conzett und Elia Blülle.
Fester Händedruck, heiterlaute Stimme, die blauen Augen halten Blickkontakt – und schon hat sie dich in ihrem Bann.
Sie stellt sich nur knapp vor. Denn sie kann sich darauf verlassen, dass du sie kennst. Und darum geht es erst mal nur um dich: Wer du bist, woher du kommst, wohin du gerade gehst. Was dich beschäftigt und besorgt. Und weil sie so direkt, so unverblümt fragt, so als ginge es sie tatsächlich etwas an, antwortest du ihr – ehrlich, unverstellt. Und was immer du ihr erzählst – sie findet eine Gemeinsamkeit.
Eine Sorge in ihrem Leben, eine Anekdote, etwas Persönliches oder einfach einen Spruch, den du verstehen wirst. Sie wird dir auch nichts über Politik erzählen, wenn du das nicht willst. Ein Gespräch von Mensch zu Mensch. Zwischen dir und ihr, der Milliardärin, der Nationalrätin, der grössten Unternehmerin im Kanton.
Sie nimmt sich fünf bis zehn Minuten Zeit für dich. Und erst ganz am Schluss stellt sie dir die Frage, ob du in Graubünden wahlberechtigt bist.
Wirst du sie wählen? Sie hört dir zu und nimmt deine Sorgen ernst. Oder?
Aus dem Körbli, das sie locker an den Arm gehängt trägt, drückt sie dir ein Schöggeli in die Hand. Keinen Flyer, den du danach entsorgen müsstest. Sie klopft dir zum Abschied auf den Oberarm oder drückt dir noch einmal fest die Hand.
Es hat sie gefreut. Und dich irgendwie auch. Selbst wenn du noch nie SVP gewählt hast.
Wer wissen will, wie Wahlkampf geht, sollte bei Magdalena Martullo in die Lehre gehen. Sie ist eine elektorale Naturgewalt, der man sich kaum entziehen kann. Gut möglich, dass sie die Schweizer Politik die nächsten Jahrzehnte prägen und verändern wird. Die Bündner Nationalrätin ist eine der reichsten Frauen der Schweiz, führt mit der Ems-Chemie eine milliardenschwere Traditionsfirma. Manche sehen sie als Nachfolgerin von SVP-Bundesrat Ueli Maurer.
Martullo ist sich für keine Hundsverlochete zu schade. Kein Anlass ist ihr zu gering, die Medien einzuladen. Auch mit Nachdruck, wenn es sein muss. Die Republik aber ist nicht willkommen. Wiederholt haben wir die Politikerin um ein Interview gebeten. Jedes Mal kam eine Absage. Die offizielle Begründung: keine Zeit.
Wir haben uns trotzdem an ihre Fersen geheftet: in Chur, Bern, Grüsch und Domat/Ems.
Ueli, der Staatsmann
SVP-Bundesrat Ueli Maurer wurde während seiner gesamten Laufbahn belächelt. Nun, da sie sich dem Ende zuneigt, wird er gefeiert. Was ist passiert?
Ein Porträt, erschienen am 20. Dezember 2018 im Onlinemagazin Republik.
Die Sorgenmiene und der stets leicht beleidigte Tonfall gehören zu ihm, seit er vor 22 Jahren Präsident der SVP wurde. Und jetzt das.
«Politik muss Spass machen», ruft Ueli Maurer an diesem 5. Dezember in den Nationalratssaal. «Und ich glaube, das soll die Bevölkerung auch spüren: dass hier Leute am Werk sind, die mit Freude versuchen, das Beste für unser Land herauszuholen.» Der 68-Jährige erntet tosenden Applaus.
Toni Brunner, der rechteste SVP-Politiker, springt genauso begeistert auf wie Silvia Schenker, die linkste Sozialdemokratin. Regula Rytz, die Präsidentin der Grünen, wird später twittern: «Eine mitreissende Antrittsrede des neuen Bundespräsidenten Ueli Maurer. Trotz aller inhaltlicher Differenz: Chapeau!»
201 von 209 im Saal anwesenden Parlamentariern haben Maurer soeben zum Bundespräsidenten des Jahres 2019 gekürt – nie seit Jean-Pascal Delamuraz (FDP) vor drei Jahrzehnten hat ein Kandidat ein besseres Resultat erreicht. Plötzlich wird Maurer über sämtliche Parteigrenzen hinweg bewundert. Ausgerechnet er, die einst so bissige SVP-Bulldogge. Was ist da passiert? Und wie verändert es Maurers Beziehung zur eigenen Partei, wenn er auf einmal als konzilianter Brückenbauer auftritt?
Ein Herz, es brennt
Beatrice Egli ist der größte Schweizer Schlagerstar. Sie singt über die Sehnsucht und die Liebe. Aber selbst hat sie keine Zeit dafür.
Ein Porträt, erschienen am 25. Oktober 2018 in der Schweizer Ausgabe der Wochenzeitung DIE ZEIT.
«Die Hände in die Höh’ – eins, zwei, Egliiii», ruft der Fotograf, dann drückt er den Auslöser. Drei Dutzend VIP-Gäste drängen sich für das Gruppenbild um Beatrice Egli, den 1,63 Meter kleinen großen Star des Schlager-Open-Airs im sanktgallischen Wildhaus. Man versteht das eigene Wort kaum im Zelt hinter der Bühne, die österreichische Partyband Meilenstein wärmt gerade das Publikum für ihre Headlinerin Egli auf. Aber das tut der lockeren Stimmung beim meet & greet keinen Abbruch.
«Wo kommst du her?», fragt Egli jeden einzelnen Fan, während sie für Fotos posiert und persönliche Widmungen auf Autogrammkarten schreibt. Wann immer das Dorf oder die Ortschaft weiter weg ist als 30 Kilometer, sagt sie: «Danke vielmals, dass du den weiten Weg auf dich genommen hast!» Ein Mädchen ist aus dem Nachbardorf Nesslau angereist. 16 Kilometer sind das. «Dort bin ich jeweils umgestiegen, wenn ich mein Gotti besucht habe», sagt Egli. «Eure Postauto-Haltestelle kenne ich darum bestens.»
Es ist ein verregneter Freitagabend im Sommer, und Beatrice Egli, Metzgerstochter aus Pfäffikon im Kanton Schwyz, hat ein Heimspiel. «S’Schönschte für mich isch, dihei zsii, da i de Schwiiz, bi minere Familie und mine Fründe», sagt sie. Doch nicht nur zu Hause, sondern im gesamten deutschsprachigen Raum wird Egli gefeiert: Seit sie vor über fünf Jahren, im Mai 2013, das Finale der zehnten Staffel von Deutschland sucht den Superstar (DSDS) gewann. Keine andere Schweizer Musikerin ist zurzeit erfolgreicher als Egli.
Egal ob an einem Open Air wie in Wildhaus im Toggenburg oder an Solokonzerten in großen Städten: Der Schlagersängerin liegen die Fans zu Füßen. Am kommenden Sonntag startet ihre vierte Tournee. Sie wird eineinhalb Monate dauern und Egli wird große Konzerthallen in Basel und Zürich, Berlin und Wien füllen. Was ist das Geheimnis ihres Erfolgs?
Fernand, ça va?
Er gehört zu den wichtigsten Regisseuren der Schweiz. Nun kämpft Fernand Melgar gegen die Drogendealer in seinem Quartier in Lausanne – und findet sich in einem Shitstorm wieder.
Ein Porträt, erschienen am 21. Juni 2018 in der Schweizer Ausgabe der deutschen Wochenzeitung DIE ZEIT.
Lässig stehen die Polizisten vor dem Eingang der Primarschule Saint-Roch in der Sonne. Die Pistole im Halfter, ein Lächeln im Gesicht. Die Typen, wegen derer die flics an diesem Freitag im Lausanner Viertel Maupas patrouillieren, sie sind nirgends zu sehen. Die Drogendealer, die hier herumlungern und auf Kundschaft warten, Dutzende waren es noch zwei Wochen zuvor, sind an diesem Tag gar nicht erst aufgetaucht. Auch sie haben mitbekommen: Nun weht ein anderer Wind.
Der Mann, der dafür verantwortlich ist, baut sich vor den Polizisten auf, um ihnen für ihre Präsenz zu danken: Es ist Fernand Melgar, 56. Seit vierzig Jahren wohnt er im Quartier. Vor ein paar Wochen hat ihn die Wut gepackt. Was dann geschah, das hat das Leben in diesen Straßen verändert – und sein eigenes erschüttert.
Ende Mai veröffentlichte Melgar, der mehrfach preisgekrönte Dokumentarfilmer, einen Gastbeitrag in der Zeitung 24 heures. «Es ist nicht hinnehmbar, dass die organisierte Kriminalität auf meiner Straße ein florierendes Geschäft aufrechterhält.» Und er stellt die Frage: «Müsste man nicht die Stadt Lausanne für jeden Jugendlichen, der an einer Überdosis stirbt, wegen fahrlässiger Tötung strafrechtlich verfolgen?» Ein paar Tage später legt der Empörte nach. Auf Facebook postet er Bilder von jungen, dunkelhäutigen Männern, die an den Außenmauern von Saint-Roch lehnen. «Das sind sechs der 22 Dealer, die am Montag um 15.30 Uhr vor der Schule darauf warten, dass die zehn- bis sechzehnjährigen Schüler herauskommen», schreibt er dazu. Politik und Polizei würden seit Jahren untätig zusehen.
Der Beitrag wird mehr als 8.000-mal geteilt, lokale Zeitungen und das welsche Radio und Fernsehen berichten darüber. Melgar wird in Diskussionssendungen eingeladen. 400 Menschen demonstrieren auf der Place Chauderon, einem der größten Drogenumschlagsplätze der Stadt, gegen das Nichtstun der Behörden. Und auf Facebook eskaliert, wie so oft, die Diskussion: Die Dealer gehören unter die Guillotine, heißt es. Einige rufen dazu auf, Bürgermilizen zu bilden, um die Händler zu verprügeln.
Melgar betritt er das Café Coquelicar mitten in Maupas. Seit Jahren verkehrt er hier, doch seit seinem Facebook-Post wird er als eine Art Winkelried verehrt und gefeiert. An den Nebentischen wird getuschelt, eine Rentnerin kommt auf Melgar zu, um ihm für seinen Mut zu danken: «Endlich sagt es einer. Du hast unsere volle Unterstützung, Fernand!»