Archive for the ‘unpublizierte Texte’ Category
Kein typischer Medienskandal
Die Gründe für den Rücktritt des Aargauer Grünen-Nationalrats Jonas Fricker sind nicht in der Medienberichterstattung zu suchen, sondern in seinem Skandalmanagement und bei seiner Partei.
Eine Analyse aus der Perspektive der Skandalforschung, erschienen ausführlich nur hier auf meinem Blog am 6. Oktober 2017. Sowie in stark gekürzter Form gleichentags in der Südostschweiz und der Aargauer Zeitung / Nordwestschweiz.
Am Anfang dieser Skandalisierung standen Worte Jonas Frickers, vorgetragen vor acht Tagen am Rednerpult des Nationalratsaals während einer belanglosen, langweiligen Debatte über eine chancenlose Volksinitiative der Grünen Partei. Eine dämliche Äusserung, eine Verharmlosung des Holocausts – darüber braucht man nicht zu diskutieren. Bösartig gemeint allerdings war Frickers Vergleich nicht. Es ging ihm nicht darum, Menschen zu entwürdigen, Juden auf die Stufe von Schweinen herabzusetzen. Wenn, dann meinte er es umgekehrt: Er wollte Schweine aufwerten. Eine Frage der Perspektive? Vielleicht. So oder so bleibt seine Aussage naiv, dumm und skandalös.
Die Empörungsmaschinerie sprang an. Der «Talk Scandal» erster Ordnung – eine mündliche Äusserung einer öffentlichen Person, die medial skandalisiert wird – mündete nicht einmal zwei Tage später im Rücktritt des Politikers. Manche hielten diesen für «unausweichlich», andere für «fragwürdig» oder «übertrieben».
Was führte zum schnellen Ende? Und inwiefern unterscheidet sich die «Affäre Fricker» von typischen Medienskandalen (worunter nicht das Mediensystem betreffende Skandale verstanden werden, sondern Skandale, die erst durch die Medienberichterstattung öffentliche Empörung wecken)? Von diesen Fragen handeln die folgenden Zeilen.
Der Fall Fricker aus der Perspektive der Skandalforschung (pdf) …
Lammfinken, Felle, Krippenfiguren
Im Schatten des edelsteinernen Swarovski-Weihnachtsbaumes verkauft Amos Grädel Wollwaren. Seit seiner Geburt schläft er selbst auf Fellen, dereinst könnte er die Schaffarm der Eltern übernehmen.
Ein Schauplatz, geschrieben im Dezember 2011 am maz – Die Schweizer Journalistenschule (unveröffentlicht).
„Wir haben auch einen Onlineshop“, sagt Amos Grädel, Wollverkäufer aus 4953 Huttwil. „Oder, falls Sie am Wochenende mal Zeit haben: Ab zehn Personen bieten wir Betriebsführungen an. Da können Sie live dabei sein, wenn die Schafe geschoren werden.“ Die beiden Frauen, schwarz gekleidet, Brillen mit roten Rändern, – Schwestern wohl –, streichen ein letztes Mal über das golden schimmernde Lammfell, pflanzlich gegerbt, nicht waschbar. „Ja“, sagt die eine zur anderen, „das wäre etwas für unseren Mütterverein. Kann man auf Ihrem Hof auch übernachten?“
Prominente prominenter machen
Vom Geschäft mit Buchstaben zum Unterhaltungskonzern: Der Ringier Verlag berät Sportler, Models und Moderatoren, über die seine Blätter schreiben. Kritiker sehen die publizistische Freiheit gefährdet – und damit die Glaubwürdigkeit einer ganzen Branche.
Die Analyse eines umstrittenen Geschäftsmodells, geschrieben im November und Dezember 2011 am maz – Die Schweizer Journalistenschule (unveröffentlicht).
In einem grossen, zweiseitigen Interview bot der SonntagsBlick Fabian Cancellara im April 2011 an prominentester Stelle – gleich in den ersten zwei Fragen – Gelegenheit, um für sein neu erschienenes Buch zu werben. „Journalistisch ist das absolut korrekt“, sagt Ringier-Kommunikationschef Edi Estermann. „Wir berichten regelmässig über Prominente, die ein neues Buch oder eine CD herausbringen. Das hat nichts mit Pool Position zu tun.“
Mirjam Jäger, eine auch bei Sportinteressierten nahezu unbekannte Freeskierin, erhielt im Blick im Dezember 2010 eine grosse Plattform. Titel der ganzseitigen Geschichte mit Bikini-Fotos: „Heisse Mirjam – Jägerin auf Goldpirsch.“ Untertitel: „Ihr Anblick bringt die eisigste Piste zum Schmelzen: Freeski-Schönheit Mirjam Jäger kann unser neues Golden-Girl werden.“ Eine Anmerkung, dass Jäger bei Pool Position und damit Ringier unter Vertrag steht, fehlte. „Korrekte Vorgehensweise“, sagt Estermann. Sollte im Sinne der Transparenz gegenüber den Lesern nicht auf das vertragliche Verhältnis hingewiesen werden? „Wenn es die Redaktion als notwendig erachtet, wird dies gemacht.“
Ach, Mensch, Herr Erden
Kamil Erden hat eine 86-jährige Rentnerin sexuell missbraucht, eine weitere Frau vergewaltigt, bei einer dritten blieb es beim Versuch. Vom Hamburger Landgericht wurde der Triebtäter gestern verurteilt – und reagierte gleichgültig.
Eine Gerichtsreportage, geschrieben im Januar und Februar 2011 an der Hamburg Media School (unveröffentlicht).
Schwach schimmert die Sonne durch die staubigen Fenster in den Saal Nummer 209 des Hamburger Landgerichts. Kamil Erden, geboren am 23.8.1980, wird ins Zimmer geführt, die Handschellen werden ihm abgenommen, er setzt sich auf die Anklagebank in der Mitte des Raumes, seine dicken Hände legt er auf den grauen Tisch vor ihm. Die olivgrüne Jacke, die ihn noch dicker macht, zieht er nicht aus. Mein Mandant macht heute einen ausgesprochen schläfrigen Eindruck, sagt der Verteidiger. Herr Erden, haben Sie Drogen oder Medikamente zu sich genommen? Ein Beruhigungsmittel, sagt der Angeklagte, weil ich heute zum Richter musste. Seine Worte sind kaum zu verstehen, er brummelt, er nuschelt. Zudem habe ich die Medizin geschluckt, die ich täglich erhalte.
Herr Erden, drei Straftaten werden Ihnen zur Last gelegt, sagt der Richter. Und die Staatsanwältin, eine junge, gestrenge Frau mit langen blonden Haaren, schürzt die Lippen und beginnt in raschen Sätzen zu erzählen.
«Hier heißen alle Weiß»
Früher wurde mancherorts die Wäscheleine eingezogen, wenn Fahrende in Dörfer kamen. Noch heute sind Sinti Opfer von Vorurteilen. Und im Mai 2012 kommen neue Roma aus Südosteuropa.
Ein Feature, geschrieben im November und Dezember 2010 an der Hamburg Media School (unveröffentlicht).
Die Spurensuche führt nach Wilhelmsburg, südlich der Elbe. Sehr ruhig ist es hier, fast schon ländlich, Backsteinromantik. In der Siedlung Niedergeorgswerder Deich leben 500 Sinti in 44 Reihenhäusern. An einem Wegrand steht ein fülliger Mann mit Schnurrbart, lässig an einen schwarzen Mercedes gelehnt. „Wir suchen Herrn Weiß“, sagen wir ein wenig schüchtern. Von dem haben wir gelesen, dass er Schulklassen besucht, um Vorurteile gegen Sinti und Roma abzubauen. Der Mann mit dem teuren Auto lächelt und fragt: „Welchen sucht ihr denn? Hier heißen alle Weiß.“
Alle seien sie miteinander verwandt und stammten vom selben Urahnen ab, erzählt Max Weiß, der in der Siedlung nur Tausto genannt wird. Der 52-jährige Sinto ist im Wohnwagen aufgewachsen. „Das Bett ist manchmal an der Außenwand des Wohnwagens festgefroren“, erinnert er sich. Sein Vater, der das KZ überlebt hatte, arbeitete im Hamburger Hafen zwei Schichten, um die große Familie durchzubringen. Nie besuchte Max Tausto Weiß eine Schule, früh musste er Geld verdienen. Schreiben, Lesen und Rechnen hat er sich später selbst beigebracht, heute führt er einen eigenen Recyclingbetrieb mit einem dutzend Angestellten. Weiß ist ein Beispiel gelungener Integration – oder vielmehr Assimilation. Mit der Anpassung, so scheint es, geht auch das Zerbröseln der eigenen Kultur einher.
«Mein Bruder hat Džeko angerufen, damit er genügend Trikots nach Hamburg mitnimmt»
Im gelb-blauen Trainingsanzug des SC Victoria 1895 steht Jasmin Bajramović vor der schmucken Haupttribüne des Stadion Hoheluft im gleichnamigen Hamburger Stadtteil. Der Höhepunkt der 115-jährigen Vereinsgeschichte steht kurz bevor: Im DFB-Pokal empfängt „Vicky“ den Bundesligisten VfL Wolfsburg.
Ein Interview mit Victoria-Captain Jasmin Bajramovic, geschrieben im Oktober 2010 an der Hamburg Media School (unveröffentlicht).
Ist das Pokalspiel auf dem Schulhof das grosse Gesprächsthema?
Die Schüler kommen auf mich zu, fragen: „Wie wollen Sie Džeko ausschalten?“ Ich antworte dann jeweils, auszuschalten sei der sowieso nicht. Vielleicht gelingt es mit vereinten Kräften. Ich bin begeistert, wie sich die Schüler mit mir auf das Spiel freuen. Weil viele meiner Schüler im Stadion sein werden, stehe ich natürlich unter einem ganz besonderen Druck (lacht). Viele Schüler wünschen sich Wolfsburger Trikots. Aber zuerst einmal versuche ich natürlich eines für mich selbst zu ergattern. Mein Bruder hat bereits bei Edin Džeko angerufen und ihn gebeten, genügend Trikots nach Hamburg mitzunehmen (lacht).
Wenn man auf der Sternschanze aufwächst: Wie wird man dann Fussballer und nicht Szenegänger?
Früher war das Schanzenviertel ein ganz anderes Quartier als heute. Nun kann man sich da ja auch am Abend mal blicken lassen. Früher war es abends dunkel und auch ein wenig gefährlich. Natürlich gab es damals schon die rote Flora und das linke Milieu. Zlatan und ich waren aber sehr fussballbezogen und haben uns kaum dafür interessiert. Abseits vom Fussballplatz waren wir auf der Schanze einzig unterwegs, um mal einen Döner zu essen (lacht).