Nicht vor Erdogan kuschen
Der deutsche Bundestag qualifiziert den Genozid an den Armeniern als ebensolchen, die Schweiz empfängt einen Kurdenführer. Das freilich genügt nicht, um den türkischen Präsidenten aufzuhalten.
Ein Kommentar, ein Bericht und ein Kurz-Interview mit Aussenminister Didier Burkhalter (hier klicken), erschienen in der Südostschweiz sowie der Aargauer Zeitung / Nordwestschweiz am 3. Juni 2016.
Der Mann kann tun und lassen, was er will – kaum ein europäischer Politiker ringt sich zu einer Kritik an Recep Tayyip Erdogan durch, die diesen Namen wirklich verdient. Und das, obwohl sich Kritik durchaus anständiger vortragen liesse, als es der deutsche Entertainer Jan Böhmermann Ende März mit seinem Schmähgedicht tat. Dass der türkische Präsident seinen Staat radikal umbaut und ausser seinem eigenen keinen anderen Willen mehr zulassen will, ist unbestritten. Dass der Westen seine Augen davor nicht verschliessen sollte, müsste unbestritten sein. Warum reist etwa Angela Merkel im Monatsrhythmus nach Ankara und Istanbul, bleibt aber stets stumm wie ein Fisch? Wegen der Flüchtlingskrise. Diese, so glauben die Staatschefs in Berlin und Brüssel, in London und Paris, lasse sich nur mit der Türkei lösen. Falsch liegen sie nicht. Erdogan hat die Flüchtlingskrise zumindest für den Moment aus dem Blickfeld der Europäer geschafft.
Nur ist es wenig weitsichtig, wenn man dem Autokraten innenpolitisch nun alles durchgehen lässt. Spätestens die von ihm angestiftete Aufhebung der Immunität von 138 Parlamentariern vor zwei Wochen hätte als jener Tropfen erkannt werden müssen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Werden Kurdenführer wie der gestern in Bern empfangene Selahattin Demirtas tatsächlich ins Gefängnis gesteckt, droht eine Ausweitung der jetzt schon bürgerkriegsähnlichen Zustände im Südosten der Türkei. Dann würde Erdogan, der Europa jetzt noch als Schleusenwart in der Flüchtlingskrise dient, zum Verursacher einer neuen Migrationsbewegung.
Er habe der türkischen Regierung angeboten, im Kurdenkonflikt zu vermitteln, sagt Aussenminister Didier Burkhalter im Interview mit der «Südostschweiz» in dieser Ausgabe. Besteht hierfür auch nur die geringste Chance, gilt es diese zu packen. Der Bundesrat hat daher richtig gehandelt, als er entschied, Demirtas nicht selbst zu empfangen, sondern seinen Staatssekretär vorzuschicken. Alles andere hätte die Türkei zu sehr verärgert. Wirklich mächtige Staaten wie Deutschland aber müssten mehr tun als den 1915 am armenischen Volk verübten Genozid als ebensolchen zu qualifizieren, wie es der Bundestag gestern tat. Sie müssten Erdogan Einhalt gebieten. Und das nicht erst in hundert Jahren.
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