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«Der Umgang mit Terror ist eine Mutprobe»
Der Schweizer Psychoanalytiker und Terrorexperte Carlo Strenger rät zum offensiven Umgang mit Terroristen: Man müsse sie blossstellen, statt sich zu ängstigen.
Ein Interview, erschienen am 22. Dezember 2016 in der Südostschweiz und der Aargauer Zeitung / Nordwestschweiz.
Terror verfolgt ein Ziel: Man soll sich nirgends mehr und zu keinem Zeitpunkt sicher fühlen. Was macht das mit uns, Herr Strenger?
Carlo Strenger: Es macht mit uns, was wir zulassen – diese Erkenntnis ist ganz wichtig. Terroranschläge verängstigen die Menschen, sie lösen Angst und Zorn aus und verleiten uns dazu, Sündenböcke zu suchen. Doch so schlimm sie auch sind: Wir müssen solche Attentate in eine Relation setzen. Am Montag, als auf dem Berliner Weihnachtsmarkt zwölf Menschen starben, kamen in Deutschland bei Autounfällen viel mehr Menschen ums Leben. Ich meine das nicht zynisch, sondern als Rezept: Wir dürfen uns von Terroristen nicht terrorisieren lassen. Sonst geben wir ihnen genau das, was sie wollen.
Das ist schwieriger gesagt, als getan.
Das stimmt. Der Umgang mit Anschlägen ist eine Mutprobe. Terror stellt nicht nur die Bürger vor eine schwere Prüfung, sondern vor allem auch die in der Verantwortung stehenden Politiker.
Wie gehen diese bisher damit um?
In Deutschland glücklicherweise ziemlich besonnen. Politiker jenseits der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD) lassen sich bis anhin genauso wenig aus der Ruhe bringen wie die Qualitätspresse. Rational und kühl zu reagieren, ist psychologisch enorm wichtig. Die Politik kann Terror nicht einfach ausradieren. Ihre vordringliche Aufgabe ist es daher, dafür zu sorgen, dass die Bevölkerung nicht dem Fremden- oder Islamhass verfällt. Denn sonst erreichen die Terroristen, was sie wollen: ein Auseinanderklaffen zwischen dem Islam und dem Westen und einen zivilisatorischen Krieg dieser zwei Welten.
Als Gegenrezept haben Sie das Prinzip der «zivilisierten Verachtung» vorgeschlagen: Liberale und Linke sollen von der politischen Korrektheit wegkommen und sich trauen, nicht-westliche Werte und Kulturen zu kritisieren. Weil sie sonst das Feld den Rechtspopulisten überlassen?
Genau. Zivilisierte Verachtung, nicht Angst ist das richtige Rezept. Und zwar all jenen gegenüber, die unsere Werte mit Füssen treten: islamistischen Terroristen genauso wie einheimischen Rechtspopulisten. Wir müssen das Handeln und die Phrasen jener Personen, die einen apokalyptischen Kriegszustand heraufbeschwören und so zur Eskalation beitragen, als moralisch falsch und als politisch unverantwortlich brandmarken. Wir müssen jene, die von der Bewirtschaftung der Angst und des Zorns leben, blossstellen.
«Alles, was gespeichert ist, wird irgendwann öffentlich werden»
Dank totaler Überwachung werden die Geheimdienste bald vorhersagen können, welche Bürger kriminell werden – und sie frühzeitig aus dem Verkehr ziehen. Davon ist der deutsche Schriftsteller Tom Hillenbrand überzeugt, der über unsere Zukunft im Überwachungsstaat einen mitreissenden Krimi geschrieben hat.
Ein Interview, erschienen am 14. September 2016 in der Südostschweiz sowie am 20. September 2016 in der Aargauer Zeitung / Nordwestschweiz.
Herr Hillenbrand, am Samstag begann in München das Oktoberfest. Die Sicherheitsvorkehrungen sind immens: Erstmals gibt es ein Rucksackverbot, Hunderte zusätzliche Ordner wurden aufgeboten und die gesamte Theresienwiese eingezäunt. Die Terrorangst überwiegt.
Tom Hillenbrand: Das stimmt. Seit dem Amoklauf in unserer Stadt mit neun Toten im Juli sind Ohnmachtsgefühle und Angst allgegenwärtig, auch wenn diese Tat gar nicht terroristisch motiviert war. Man sollte sich allerdings keiner Illusion hingeben: Totale Sicherheit gibt es mit den heute verfügbaren Mitteln nicht. Bei Rucksackverbot und Zaun geht es vor allem darum, Bewohnern und Besuchern ein Sicherheitsgefühl zu vermitteln.
Noch gibt es keine totale Sicherheit. In Ihrem dystopischen Roman «Drohnenland» aber ist das anders. Wie weit in der Zukunft spielt Ihr Buch?
Als ich es schrieb, dachte ich, es spiele einige Jahrzehnte in der Zukunft. Viele Entwicklungen der letzten zwölf Monate aber lassen mich daran zweifeln, ob «Drohnenland» nicht viel näher liegt. Technologisch ist totale Überwachung schon heute möglich, und jeder Terroranschlag lässt es zwangsläufiger erscheinen, diese Methoden auch anzuwenden. Auch wenn dabei der Rechtsstaat komplett ausgehöhlt wird.
(…)
In «Drohnenland» erinnern sich nur noch die alten Unionsbürger an Privatsphäre.
Die Leute verschliessen die Augen vor der Erosion der Privatsphäre. Vieles ist bereits unumkehrbar. Den öffentlichen Raum muss man verloren geben, der ist längst komplett kameraüberwacht. Im privaten Rahmen aber sollten wir es den Überwachern so schwer wie möglich machen. Und wir sollten juristisch vorsehen, damit solch private Daten strafrechtlich nicht oder zumindest nicht zeitlich unbegrenzt verwendet werden dürfen.
Fast noch beunruhigender als die totale Überwachung ist eine andere Utopie, die Sie in «Drohnenland» präsentieren: die Prädiktion. Zu jedem Unionsbürger wird ein prädiktives polizeiliches Führungszeugnis erstellt, welches voraussagt, zu welcher Wahrscheinlichkeit jemand in den kommenden zehn Jahren eine schwere Straftat begehen wird. Die Polizei zieht diese Menschen noch vor ihrer Tat aus dem Verkehr. In diesem Punkt übertreibt «Drohnenland»: Menschliches Verhalten ist viel zu komplex für Prädiktion.
Sie irren sich. Der britische Physiker Stephen Wolfram, der sich mit der Prädiktion menschlichen Verhaltens beschäftigt, sagt: «Menschliches Handeln ist vorhersagbarer als die Quantenmechanik von Elementarteilchen.» Hart, aber wahr: Wir sind leichter zu durchschauen als Elementarteilchen, auch wenn wir uns für komplex und unergründlich halten.
Freiheit nicht dem Zeitgeist opfern
Am 25. September stimmen wir über unzählige neue Schnüffelkompetenzen für den Geheimdienst ab. Wieso die «Südostschweiz» trotz Terrorbedrohung ein Nein empfiehlt.
Ein Kommentar, erschienen am 10. September 2016 in der Südostschweiz.
Am 3. März 1990 versammeln sich in Bern 35 000 Personen zur Kundgebung «Schluss mit dem Schnüffelstaat» – der bis dahin grössten Demonstration der Schweizer Nachkriegsgeschichte. Sie alle protestieren gegen die Fichierung von mehr als 900 000 Personen und Organisationen – in den Augen der ausser Kontrolle geratenen Schlapphüte allesamt Subversive, potenzielle Verräter, Extremisten oder Terroristen.
26 Jahre später stimmen wir über ein Nachrichtendienstgesetz ab, das unseren Geheimdienst mit enormen Kompetenzen ausstatten würde. Und doch hinterfragt das neue Gesetz kaum jemand, bleibt eine öffentliche Debatte weitgehend aus. Gleich doppelt spielt der Zeitgeist den Schnüfflern in die Hände: Erstens ist die Bedrohung durch Terroranschläge gestiegen, seit diese nicht mehr nur in Bagdad, Kabul und Islamabad, sondern auch in Paris, Brüssel und Nizza verübt werden. Doch die Suche nach Terroristen und anderen schweren Kriminellen wird auch mit dem neuen Gesetz der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen gleichen – ohne jede Gewähr auf Erfolg (die Attentäter von Paris und Brüssel etwa waren den Behörden bekannt).
Zweitens haben sich im Internetzeitalter die meisten Bürger daran gewöhnt, sorglos mit ihren Daten umzugehen und so die Privatsphäre immer weiter auszuhöhlen. «Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten» – wer sich mit dieser Floskel zufrieden gibt, ist naiv. Denn selbst wer dem Nachrichtendienst und dem Bundesrat in seiner gegenwärtigen Zusammensetzung vertraut, sollte sich vorsehen: Niemand weiss, wer in Zukunft die Regierung bilden und ob nicht eines Tages als verhängnisvoll gelten wird, was heute noch als bedeutungslose Information erscheint.
Umso mehr sollten wir gut überlegen, ob wir unsere Freiheit wirklich für einen Hauch mehr Sicherheit opfern wollen. Gesetzesänderungen solcher Tragweite sollten dem Zeitgeist widerstehen können, wenn dieser den Sinn zu sehr trübt.