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Eine Generation muckt auf
Gleich in fünf Schweizer Städten gingen Schüler gestern auf die Strasse. Ein Einzelfall? Oder führen ausgerechnet Abstriche in der Bildung dazu, dass sich die als apolitisch verschriene Jugend vermehrt für Politik interessiert?
Ein Hintergrundartikel, erschienen am 6. April 2017 in der Südostschweiz sowie der Aargauer Zeitung / Nordwestschweiz.
«Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Zukunft klaut!» Parolen skandierend, marschieren um die tausend Teenager gestern Nachmittag durch Luzern. Gleichzeitig demonstrieren auch in Zürich, Basel, Aarau und Genf Jugendliche gegen die Streichung von Freifächern und Instrumentalunterricht, gegen grössere Klassen und die Kürzung von Lehrerlöhnen. Eine Generation, die man bis vor kurzem für unpolitisch hielt, geht auf einmal auf die Strasse, weil sie «#KeLoscht» – unter diesem Motto haben sich die Protestaufrufe im Internet verbreitet – auf Bildungsabbau hat.
«Unsere Generation hat enorm grosse Lust, etwas zu bewegen», sagt Samuel Zbinden am Ende eines ereignisreichen Tages. Der 18-jährige Gymnasiast aus Sursee LU hat die Proteste koordiniert und ist selbst in Luzern mitmarschiert. Über den lautstarken, aber friedlichen Protest freut er sich. «Wir bleiben organisiert», kündigt er an. «Dieser Protest war nicht unser letzter.»
Davon geht auch Politologe Lukas Golder aus, der seit Jahren zur Jugendpartizipation forscht. «Menschen, die zwischen 1980 und 1999 geboren wurden, gelten als unpolitisch. Diese Generation Y engagierte sich in ihrer Jugend politisch und sozial fast gar nicht, sondern wollte sich primär selbst verwirklichen», sagt der Leiter des GfS Instituts in Bern. Die im neuen Jahrtausend geborenen Jugendlichen – jene der Generation Z – seien zwar ebenso selbstbezogen, was durch die überragende Bedeutung der sozialen Medien noch gesteigert werde. «Darin aber schlummert rebellisches Potenzial: Die Generation Z will auf keinen Fall zu kurz kommen – und wehrt sich mithilfe technologischer Mittel sofort, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlt.»
Beim von Golder jährlich erhobenen CS-Jugendbarometer gaben im vergangenen Herbst erstmals mehr Jugendliche an, sich stärker für Welt- als für Inlandpolitik zu interessieren. Eine Beobachtung, die Flavio Bundi teilt, der es als Geschäftsleiter von Easyvote wissen muss. Sein Verein versucht seit einigen Jahren mit Erklärvideos und Broschüren, die Überforderung abzubauen, die Jugendliche im Vorfeld von Abstimmungen und Wahlen oft verspüren. «Was für die ältere Generation die EWR-Abstimmung 1992 war, könnte für die Generation Z die Wahl Trumps gewesen sein: Ein Schub, sich stärker zu informieren oder gar politisch zu engagieren», sagt Bundi. Auch wenn die USA weit weg seien, hätten Jugendliche die Wahl über Facebook, Instagram und Snapchat in der Schweiz hautnah miterlebt. «Durch die sozialen Medien ist Betroffenheit globalisiert worden.»
Nachwuchspolitiker ohne Stil
Die Jungparteien wollten das Überwachungsgesetz Büpf mit einem Referendum bodigen. Doch jetzt zerfleischen sie sich nach einer Attacke des Juso-Präsidenten gegenseitig.
Ein Kommentar, erschienen am 8. Juni 2016 in der Südostschweiz sowie der Aargauer Zeitung / Nordwestschweiz und hier in etwas ausführlicherer Version online.
Der Präsident der Jungsozialisten tat das Einzige, was er wirklich gut kann: Er schoss scharf gegen seine politischen Gegner. «Die bürgerlichen Jungparteien haben mit dem heutigen Tag ihre Existenzberechtigung verloren», sagte Fabian Molina gestern in einem Interview mit «blick.ch». Was nur brachte den Juso-Chef derart auf die Palme? Einen Monat vor Ablauf der Sammelfrist sieht es ganz danach aus, als ob die drei Jungparteien mit ihrem gemeinsam lancierten Referendum gegen das Gesetz zur Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (Büpf) scheitern werden. Mit diesem werden alle grösseren Anbieter von Internetdiensten verpflichtet, das Kommunikationsverhalten ihrer Kunden für sechs Monate aufzuzeichnen: wer wann wo und mit wem kommuniziert. Die aufbewahrten Daten dürfen sogar im Ausland gespeichert werden. Zudem wird eine Rechtsgrundlage für den Einsatz von sogenannten Staatstrojanern und Imsi-Catchern geschaffen.
Obwohl sich Nachwuchspolitiker aller Parteien (mit Ausnahme der CVP) gegen das Büpf wenden, weil dieses ihrer Ansicht nach alle Menschen unter Generalverdacht stellt, ist laut Molina einen Monat vor Ablauf der Sammelfrist erst knapp die Hälfte der notwendigen 50 000 Unterschriften beisammen. Wer schuld ist, glaubt der umtriebige Jungpolitiker zu wissen: Seine Feinde von Jungfreisinn und Jung-SVP, mit denen der 25-Jährige dieses eine Mal eigentlich gemeinsame Sache machen wollte, die nun aber viel zu wenig Eifer an den Tag legten. Die Kritisierten reagieren heftig auf den Frontalangriff. «Molina ist uns in den Rücken gefallen», sagt Andri Silberschmidt, Chef der Jungfreisinnigen. «Unser ohnehin spärlich vorhandenes Vertrauen in die Juso ist erschüttert.»
Das ist nachvollziehbar. Für Molinas Vorpreschen nämlich gibt es einzig einen Grund: Selbstinszenierung. Der in zehn Tagen abtretende Juso-Chef versucht verzweifelt, die zum Abschluss seiner Amtszeit drohende Niederlage auf andere abzuschieben und sich aus der Verantwortung zu stehlen – ein allzu durchschaubares, peinliches Manöver. Es ist nicht einzusehen, weshalb sich die Juso beim Sammeln hinter den normalerweise weniger schlagkräftigen Jung-FDP und -SVP verstecken dürfen sollte. Warum glaubt sie, nur 5000 Unterschriften beisteuern zu müssen, während sie von ihren bürgerlichen Partnern je deren 10’000 erwartet? Im vergangenen Winter sammelten die Jungsozialisten im Alleingang rund 30’000 Unterschriften gegen das neue Nachrichtendienstgesetz, über das nun im September abgestimmt wird. Der Schluss liegt nahe: So wichtig ist Molina und Kollegen der Kampf gegen das Büpf dann doch nicht. Obwohl sie an der SP-Delegiertenversammlung kürzlich überraschend gar von der Basis ihrer Mutterpartei Unterstützung im Kampf gegen das Büpf – ein Geschäft ihrer Bundesrätin Simonetta Sommaruga! – erfuhren. Und auch wenn Molina behauptet: «Im Unterschied zu den bürgerlichen Jungparteien hat die Juso von Anfang an wie ein Löwe gegen das Überwachungsgesetz gekämpft.»
Dass die Führungskräfte der bürgerlichen Jungparteien gekränkt auf die Anschuldigungen reagieren, ist verständlich. Dennoch zeugt auch ihre Reaktion nicht von Klasse. Mit ihren Gegenangriffen haben sich Silberschmidt und auch JSVP-Präsident Benjamin Fischer zumindest in die Nähe von Molinas Niveau begeben und kräftig an der Empörungsspirale gedreht. Für die Zukunft lässt die Schlammschlacht der Jungparteien nichts Gutes erwarten. Wie soll es ihnen gelingen, ein Mindestmass an Anstand zu wahren, wenn sie diesen selbst dann missen lassen, wenn sie mal gemeinsam für ein Anliegen eintreten? Wie wollen sie die Interessen der Jugend vertreten, wenn sie sich nicht ein Mal zusammenraufen können? Immerhin: Anlass zu leiser Hoffnung besteht. Molina verreist bald für ein Erasmus-Semester nach Madrid und kehrt der Schweizer Politik zumindest vorübergehend den Rücken. Die Chance zum Neuanfang? Vielleicht hat seine Nachfolgerin – ob am 18. Juni nun die Bernerin Tamara Funiciello oder die Baslerin Samira Marti gewählt wird – ja mehr Stil und Realitätssinn.
Junge appellieren an die Bürgerpflicht
Für gewöhnlich geht bloss ein Drittel der 18- bis 25-Jährigen wählen: Dies wollen Alexandra Molinaro und Nicola Jorio nun mit ihrem Projekt Easyvote ändern.
Ein Hintergrundbericht zur tiefen Wahlbeteiligung junger Schweizer, erschienen am 8. Oktober 2015 in der Südostschweiz und der Nordwestschweiz / Aargauer Zeitung.
Mit roten Fahnen und Kartonschachteln voller Unterschriftenbögen überquert das gute Dutzend Jungsozialisten den Bundesplatz und platziert sich vor dem Eingang des Schweizer Parlaments, um dessen Präsidenten eine Petition zu übergeben. Gleichzeitig posieren, wenige Meter entfernt, Alexandra Molinaro und Nicola Jorio für den «Südostschweiz»-Fotografen. Wie die Juso engagieren sich die beiden jungen Erwachsenen politisch – und doch sind sie sichtlich bemüht darum, keinesfalls in die Nähe der Juso gerückt zu werden. Denn politische Neutralität ist ihr Kapital.
Rund 290 000 Schweizer können am 18. Oktober zum ersten Mal ihre Stimme bei den National- und Ständeratswahlen abgeben. Doch erfahrungsgemäss wird dies nur rund ein Drittel tun – ausser, Molinaro und Jorio haben mit ihrem Engagement raschen Erfolg. Die 27-jährige Bernerin und der 26-jährige Berner sind die Köpfe hinter Easyvote, einem parteipolitisch unabhängigen Projekt des Dachverbandes Schweizer Jugendparlamente. Langfristig wollen sie die Wahl- und Stimmbeteiligung der 18- bis 25-Jährigen auf 40 Prozent erhöhen, in zehn Tagen sollen wenigstens 35 Prozent einen Wahlzettel in die Urne legen – drei Prozent mehr als vor vier Jahren.
Molinaro und Jorio wollen nicht länger hinnehmen, dass sich ihre Altersgenossen viel weniger beteiligen als ältere Semester: 2011 wählten 57 Prozent der 55- bis 64-Jährigen, 61 Prozent der 65- bis 74-Jährigen und 70 Prozent der Über-75-Jährigen. Weil die Gruppe der Jungwähler bloss halb so gross ist wie jene der Rentner, bedeutet dies: Rund einer Million Alt- stehen 250 000 Jungwähler gegenüber.