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Schmuggler, Seeschlachten und «Sauschwaben»
Der Bodensee ist einer von nur zwei Orten in Europa, wo nie völkerrechtlich gültige Grenzen festgelegt wurden – mit absurden und zuweilen tragischen Konsequenzen. Episoden über ein Kuriosum im Dreiländereck.
Ein Listicle mit 30 Anekdoten, erschienen im Rahmen einer Serie über Grenzen am 29. September im Onlinemagazin Republik.
1. Dort Krieg, hier Gleichgültigkeit
Quizfrage: Welche Gemeinsamkeit haben die Emsmündung zwischen dem niederländischen Groningen und Ostfriesland – und der Bodensee? Antwort: Es sind die einzigen beiden Orte in Europa, an denen nie völkerrechtlich gültige Grenzen festgelegt wurden.
Dennoch ist es im Dreiländereck Schweiz–Österreich–Deutschland nie zu einem Grenzkrieg gekommen, geschweige denn zu einer Annexion. Anders als bei den Konflikten zwischen China und Indien, zwischen Armenien und Aserbaidschan sowie zwischen der Türkei und Griechenland, die in diesem Sommer wieder aufflammten, herrscht hier seit Jahrhunderten Ruhe. Vollkommen friedlich aber war das Auskommen der drei Bodensee-Anrainer nicht immer. Und deshalb kann, wer vom ungeklärten Grenzverlauf berichtet, auch von einem nur knapp vor der Sprengung bewahrten Passagierschiff erzählen, von einem lukrativen Duty-free-Boot und rechtlich umstrittenen Corona-Bussen für Sportfischer. (…)
4. «Kuhschweizer» und «Sauschwaben»
Trotz Zehntausender Toten verändert sich durch den Schwabenkrieg territorial wenig. Immerhin: Seit damals ist klar, dass der Rhein und der Bodensee die Eidgenossenschaft im Norden begrenzen – auch wenn der genaue Grenzverlauf im See offenbleibt. Zudem überleben zwei Schimpfwörter jener Zeit die Jahrhunderte: Die Soldaten des Schwäbischen Bundes provozieren die Eidgenossen, indem sie laut muhen und ihnen «Kuhschweizer» zurufen: Damit implizieren sie, der Feind vergreife sich auf der Alp und in den Ställen an Kühen. Die der Sodomie bezichtigten Eidgenossen kontern mit Waffen und dem Schimpfwort «Sauschwaben». (…)
29. Drei sauteure, aber leckere Felchen
Am 3. April 2020 angeln zwei Schweizer Sportfischer aus Arbon in der Bregenzer Bucht. Zwar befinden sie sich nach österreichischer Lesart in internationalen Gewässern, doch ist das auf dem Höhepunkt der Corona-Krise offenbar auch den Bregenzer Beamten nicht ganz klar. Sie sehen nur, dass sich da zwei Männer, die nicht im gleichen Haushalt wohnen, gemeinsam an einem öffentlichen Ort aufhalten. Wegen Verstosses gegen die österreichische Covid-19-Verordnung erlassen sie einen Strafbefehl gegen die Männer: Entweder sie bezahlen je 450 Euro, oder sie wandern für 42 Stunden ins Gefängnis.
Die beiden Sportfischer wollen sich das nicht bieten lassen. «Wir hatten immer genügend Abstand voneinander», sagt Peter Künzi, schliesslich sei ihr Motorboot 6,6 Meter lang und 1,75 Meter breit. Zudem hätten sie die Geräte nach dem Gebrauch stets mit Desinfektionsmittel abgewischt. Wie die Sache ausgeht, ist zurzeit offen – ein Anwalt hat im Namen der beiden Fischer Rekurs eingelegt. «Bevor ich diese skurrile und ungerechtfertigte Busse in derart exorbitanter Höhe bezahle, gehe ich in Bregenz ins Gefängnis und sitze diese knapp zwei Tage ab», sagt Fischer Peter Künzi zur Republik. Immerhin: Die drei Felchen, die sie an jenem Tag geangelt haben, seien lecker gewesen.
Von SRF bis ZDF: Der «Staatsfunk» am Pranger
In der Schweiz stellt die No-Billag-Initiative die Existenz des Schweizer Radios und Fernsehens infrage. Doch auch anderswo in Europa geraten öffentlich-rechtliche Sender unter Beschuss. Inbesondere in Deutschland.
Ein Hintergrundartikel, erschienen am 17. Oktober 2017 in der Südostschweiz sowie der Aargauer Zeitung / Nordwestschweiz.
Die unheimliche Macht: Wie ARD und ZDF Politik betreiben», titelte das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» kürzlich auf seiner Frontseite. Die Titelgeschichte war der bisherige Höhepunkt der Kritik, die seit Monaten auf die öffentlich-rechtlichen Sender einprasselt. Manchmal habe man den Eindruck, die beiden Anstalten machten ungefähr so Fernsehen, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel regiere, monierte der «Spiegel». «Irgendwo zwischen ‹Sie kennen uns›, ‹In der Ruhe liegt die Kraft› und kulturellem Wachkoma.» Das Unterhaltungsprogramm der beiden Sender scheine vor allem ein Ziel zu haben: «einen Mehltau der Vorhersehbarkeit über die Republik zu legen. Ein ewiges Immer-weiter-so.»
Und weiter wie bisher, das geht auf gar keinen Fall – da sind sich die Kritiker einig. Es ist ein seltsames Bündnis, das sich in dieser Angelegenheit gefunden hat: Auf der einen Seite kämpft die rechtspopulistische AfD, die ARD und ZDF «Lügenpresse» schimpft und die Rundfunkgebühr abschaffen möchte; auf der anderen Seite wettern Vertreter der privaten TV-Anstalten genauso wie jene der gedruckten Presse. Beispielsweise Mathias Döpfner, Chef von Deutschlands grösstem Verlag Axel Springer und Präsident des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger, der ARD und ZDF in Reden und Interviews als «Staats-Presse» bezeichnet und nicht vor Vergleichen mit Nordkorea zurückschreckt. Vor allem online fürchtet Döpfner die gebührenfinanzierten Sender – genauso wie sein Schweizer Pendant, Verlegerverbandspräsident Pietro Supino.
Dies nämlich ist die Gretchenfrage: Wer soll im Internet wie viel dürfen? Eine Onlinestudie von ARD und ZDF förderte vergangene Woche zutage, dass 14- bis 29-Jährige mittlerweile jeden Tag viereinhalb Stunden online sind und davon knapp zwei Stunden Medien konsumieren. Manfred Krupp, Intendant des Hessischen Rundfunks und Vorsitzender der ARD/ZDF-Medienkommission, leitete daraus Forderungen ab: «Wer für diese Generationen relevant bleiben will, muss ihnen attraktive Informations- und Unterhaltungsangebote auf ihren Plattformen machen.» Die privaten Verleger hingegen warnen vor einem arg verzerrten Wettbewerb, der das Überleben ihrer Unternehmen gefährde. Sie wollen, dass ARD, ZDF und SRG online nur dann längere Texte publizieren dürfen, wenn diese einen direkten Bezug zu einem Beitrag aufweisen. Zudem sollen sie online keinesfalls Werbung schalten dürfen.
Noch stärker als die deutschen Sender ist das Schweizer Radio und Fernsehen unter Druck. Voraussichtlich im kommenden Mai wird über die No-BillagInitiative abgestimmt, welche die Empfangsgebühren abschaffen möchte und deren Annahme das Ende der SRG bedeuten würde. Auch wenn National- und Ständerat das Volksbegehren deutlich verworfen haben und auch der Bundesrat ein Nein empfiehlt: Es dürfte in der Bevölkerung alles andere als chancenlos sein. Laut einer repräsentativen Umfrage stimmt ihm gegenwärtig gar eine relative Mehrheit von 47 Prozent sicher oder eher zu, während es bloss 37 Prozent sicher oder eher ablehnen wollen.
AfD und SVP: Beziehungsstatus «kompliziert»
Die Alternative für Deutschland sucht die Nähe zur Schweizerischen Volkspartei – doch deren Chef Albert Rösti will davon nichts wissen. So distanziert sind allerdings nicht alle SVP-Nationalräte.
Eine Analyse, erschienen am 27. September 2017 in der Südostschweiz und der Aargauer Zeitung / Nordwestschweiz.
Es gab Zeiten, da verwahrten sich AfD-Spitzenpolitiker gegen Vergleiche mit der Schweizerischen Volkspartei. «Der Vergleich mit der SVP erschüttert mich», sagte im Herbst 2014 der damalige Parteichef Bernd Lucke. Er habe die Plakate gesehen, mit denen die SVP bei Wahlen oder Volksabstimmungen gegen Muslime Stimmung machte – «geradezu in hetzerischer Art und Weise: schwarze Gestalten vor schwarzen Minaretten. So etwas tun wir nicht.» Ein Jahr später doppelte Luckes Nachfolgerin Frauke Petry nach: «Wir sind keine Zöglinge der SVP.»
Inzwischen hat sich die Beziehung ins Gegenteil verkehrt: Die Alternative für Deutschland hat die SVP in hohem Tempo rechts überholt, ist neben der FDP die zweite grosse Siegerin der Bundestagswahl vom vergangenen Sonntag und stellt künftig 93 Abgeordnete – darunter mehrere Politiker, die den Holocaust leugnen und Adolf Hitler offen verehren. Kein Wunder, will die SVP-Spitze nicht mit der AfD in einen Topf geworfen werden. «Wir unterhalten bewusst keinerlei Kontakte zur AfD und auch sonst zu keiner ausländischen Partei», sagt Präsident Albert Rösti. Viele rechte Parteien Europas trügen nationalsozialistisches Gedankengut in sich, die SVP dagegen vertrete liberale Positionen. Kurzum: «Mit denä wei mr nüt z tüe ha!»
Die AfD hingegen hätte gerne mehr mit der SVP und der Schweiz zu tun. Der erste Absatz ihres Parteiprogramms lautet: «Die AfD setzt sich dafür ein, Volksentscheide in Anlehnung an das Schweizer Vorbild auch in Deutschland einzuführen.» Spitzenkandidatin Alice Weidel bezeichnete die SVP in den vergangenen Monaten wiederholt als «Schwesterpartei», vor anderthalb Jahren war Parteichefin Petry Gast der SVP-nahen «Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz» in Interlaken. Und Spitzenkandidat Alexander Gauland wurde vor zehn Monaten gemeinsam mit Christoph Blocher in die SRF-Arena eingeladen. Was den SVP-Patron aber so sehr störte, dass er nur unter der Bedingung teilnahm, nicht neben Gauland stehen zu müssen.
Nicht alle SVP-Politiker gehen derart dezidiert auf Distanz zur AfD. «Ich freute mich darüber, dass die AfD gewann und Merkel und die Roten abgestraft wurden», sagt der Aargauer Nationalrat und SVP-Asylchef Andreas Glarner. Und der Solothurner Nationalrat Walter Wobmann, Vater der 2009 angenommenen Anti-Minarettinitiative und der vor Kurzem zustande gekommenen Anti-Burka-Initiative, ergänzt: «In der Aussenpolitik sowie im Speziellen bei den Themen Zuwanderung und ‘Islamisierung’ betreibt die SVP trotz Bundesratszugehörigkeit Oppositionspolitik: Es sind Themen, bei denen wir mit der AfD Berührungspunkte haben.»
Was also verbindet, was unterscheidet die beiden Parteien wirklich?
«Die SVP ist nicht rechtsnationalistisch»
Die deutsche Wahlsiegerin AfD sei viel radikaler als die SVP, findet Tim Guldimann, SP-Nationalrat und langjähriger Schweizer Botschafter in Berlin. Im Interview erklärt der 67-Jährige zudem, warum er den Schritt «seiner» SPD in die Opposition begrüsst und wen er sich als Kanzlerkandidatin 2021 wünscht.
Ein Interview, erschienen am 26. September 2017 in der Südostschweiz und der Aargauer Zeitung / Nordwestschweiz.
Herr Guldimann, erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wurde am Sonntag mit der AfD eine in weiten Teilen rechtsradikale Partei in den Bundestag gewählt. Sind Sie schockiert?
Von den Positionen, die wir vom Führungspersonal um Frauke Petry, Jörg Meuthen und Alexander Gauland in den letzten Monaten zu hören bekommen: ja. Aber seien wir ehrlich: 12 Prozent Rechtsextreme sind im Vergleich zu Frankreich oder Österreich bescheiden.
Dann halten Sie nichts von Vergleichen der AfD mit der SVP und relativierenden Stimmen, die hoffen, die deutsche Partei lasse sich genauso ins politische System einbinden wie die Schweizer Partei?
Nein, davon halte ich nichts. Es gibt zwar auch in der SVP faschistoide Elemente. Doch sind sie nicht der Mainstream einer Partei, die seit Jahrzehnten Regierungsverantwortung trägt. Es gibt zahlreiche SVP-Kollegen im Parlament, mit denen ich sehr vernünftig diskutieren kann, das wäre mit der AfD wohl kaum möglich. Die radikalen, völkisch-nationalen Positionen der AfD stehen auch vor einem ganz anderen historischen Hintergrund, der sie so erschreckend macht.
In ihrer Bürgeransprache allerdings sind die Parteien durchaus vergleichbar: Beide lassen sich Plakate von Werber Alexander Segert gestalten.
Dennoch: Auch wenn die SVP ebenfalls auf der rechten Klaviatur spielt, ist sie in ihrem Kern nicht rechtsnationalistisch orientiert, sondern rechtsbürgerlich.
Die AfD wirbt für die direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild.
Ja, sie glaubt, damit die Stimme des Volkes gegen «die da oben» mobilisieren zu können. Und weil sie das tut, sind die anderen Parteien – vor allem die SPD – zurückhaltend geworden, für direktdemokratische Verfahren zu werben. Vor zwei Wochen sprach ich mit Thomas Oppermann, dem bisherigen SPD-Fraktionschef im Bundestag. Jahrelang war er ein Anhänger der direkten Demokratie, heute ist er vorsichtig.