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«Alles, was gespeichert ist, wird irgendwann öffentlich werden»
Dank totaler Überwachung werden die Geheimdienste bald vorhersagen können, welche Bürger kriminell werden – und sie frühzeitig aus dem Verkehr ziehen. Davon ist der deutsche Schriftsteller Tom Hillenbrand überzeugt, der über unsere Zukunft im Überwachungsstaat einen mitreissenden Krimi geschrieben hat.
Ein Interview, erschienen am 14. September 2016 in der Südostschweiz sowie am 20. September 2016 in der Aargauer Zeitung / Nordwestschweiz.
Herr Hillenbrand, am Samstag begann in München das Oktoberfest. Die Sicherheitsvorkehrungen sind immens: Erstmals gibt es ein Rucksackverbot, Hunderte zusätzliche Ordner wurden aufgeboten und die gesamte Theresienwiese eingezäunt. Die Terrorangst überwiegt.
Tom Hillenbrand: Das stimmt. Seit dem Amoklauf in unserer Stadt mit neun Toten im Juli sind Ohnmachtsgefühle und Angst allgegenwärtig, auch wenn diese Tat gar nicht terroristisch motiviert war. Man sollte sich allerdings keiner Illusion hingeben: Totale Sicherheit gibt es mit den heute verfügbaren Mitteln nicht. Bei Rucksackverbot und Zaun geht es vor allem darum, Bewohnern und Besuchern ein Sicherheitsgefühl zu vermitteln.
Noch gibt es keine totale Sicherheit. In Ihrem dystopischen Roman «Drohnenland» aber ist das anders. Wie weit in der Zukunft spielt Ihr Buch?
Als ich es schrieb, dachte ich, es spiele einige Jahrzehnte in der Zukunft. Viele Entwicklungen der letzten zwölf Monate aber lassen mich daran zweifeln, ob «Drohnenland» nicht viel näher liegt. Technologisch ist totale Überwachung schon heute möglich, und jeder Terroranschlag lässt es zwangsläufiger erscheinen, diese Methoden auch anzuwenden. Auch wenn dabei der Rechtsstaat komplett ausgehöhlt wird.
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In «Drohnenland» erinnern sich nur noch die alten Unionsbürger an Privatsphäre.
Die Leute verschliessen die Augen vor der Erosion der Privatsphäre. Vieles ist bereits unumkehrbar. Den öffentlichen Raum muss man verloren geben, der ist längst komplett kameraüberwacht. Im privaten Rahmen aber sollten wir es den Überwachern so schwer wie möglich machen. Und wir sollten juristisch vorsehen, damit solch private Daten strafrechtlich nicht oder zumindest nicht zeitlich unbegrenzt verwendet werden dürfen.
Fast noch beunruhigender als die totale Überwachung ist eine andere Utopie, die Sie in «Drohnenland» präsentieren: die Prädiktion. Zu jedem Unionsbürger wird ein prädiktives polizeiliches Führungszeugnis erstellt, welches voraussagt, zu welcher Wahrscheinlichkeit jemand in den kommenden zehn Jahren eine schwere Straftat begehen wird. Die Polizei zieht diese Menschen noch vor ihrer Tat aus dem Verkehr. In diesem Punkt übertreibt «Drohnenland»: Menschliches Verhalten ist viel zu komplex für Prädiktion.
Sie irren sich. Der britische Physiker Stephen Wolfram, der sich mit der Prädiktion menschlichen Verhaltens beschäftigt, sagt: «Menschliches Handeln ist vorhersagbarer als die Quantenmechanik von Elementarteilchen.» Hart, aber wahr: Wir sind leichter zu durchschauen als Elementarteilchen, auch wenn wir uns für komplex und unergründlich halten.
Löscht Hans Borner bald für immer das Licht?
Drei Fabriken haben das europaweite Verkaufsverbot für Glühbirnen überlebt, davon eine in der Schweiz: Patron Hans Borner aber überlegt nun, seine 110-jährige Righi Licht zu schliessen.
Eine Reportage, erschienen am 13. September in der Südostschweiz und am 16. September 2016 in der Aargauer Zeitung / Nordwestschweiz.
Konzentriert und sorgfältig, aber doch flink fädelt seine Angestellte den Wolframfaden, der kaum dicker ist als ein menschliches Haar, durch drei Dutzend kleinste Schlaufen, knickt ihn dann mit einer Schere ab und greift zum nächsten Draht. «Ein Vierteljahr muss man üben, bis man dieses Handwerk beherrscht», sagt Hans Borner, der ihr mit glänzenden Augen über die Schultern lugt und strahlt, als sehe er das alles zum ersten Mal. «Diesen Draht spiralförmig aufzuwickeln und so Licht zu erzeugen, ist hohe Kunst.»
Ein Besuch in Borners Glühbirnenfabrik Righi Licht AG in Immensee am Zugersee ist wie eine Zeitreise: Vieles hier ist Handarbeit, und wenn doch einmal auf eine Maschine zurückgegriffen wird, ist sie Jahrzehnte alt, aufgekauft aus irgendeiner maroden Firma in Osteuropa.
«Als die Glühbirnen die Kerzen ablösten, kam niemand auf die Idee, Kerzen zu verbieten», sagt Borner, der in ein paar Tagen 75-jährig wird. «Glühbirnen aber wurden aus den Verkaufsregalen verbannt, weil die Industrie ein Milliardengeschäft mit Energiesparlampen witterte.» Zwei Drittel der einst 60 Angestellten musste er entlassen, 17 vorwiegend aus Bosnien stammende Mitarbeiter sind ihm geblieben. Einige Hunderttausend Glühbirnen stellen sie jedes Jahr her: von der einst allgegenwärtigen 40-Watt-Glühbirne P64 Deluxe mit ihrer Lebensdauer von 4000 Stunden bis zu komplexen technischen Signallampen für die Schweizerischen Bundesbahnen.
Im PDF zusätzlich:
- Wie Industrie und Politik der Glühbirne die Stromversorgung kappten – hat sich das Verbot gelohnt?
- Von der Gurke bis zum Staubsauger – trotz Brexit reguliert Brüssel weiter wie bisher
Mit «Big Data» statt Kantönligeist gegen Krebs
Computer, die in kürzester Zeit Millionen Informationen verarbeiten können, verändern das Gesundheitssystem von Grund auf. Für die Diagnose und Behandlung von Krankheiten können sie einen Quantensprung darstellen. Doch der Datenhunger löst auch Unbehagen aus.
Eine Analyse, erschienen am 11. August 2016 in der Südostschweiz sowie der Aargauer Zeitung / Nordwestschweiz.
Wer sich krank fühlt, googelt. Doch nicht nur der Einzelne zapft das globale Wissen an, wenn er alleine nicht mehr weiter kommt. Auch Ärzte tun das. Jeder Tumor, jedes Krankheitsbild ist einzigartig. Die richtige Diagnose zu treffen, sich für eine Behandlungsmethode zu entscheiden und Medikamente exakt zu dosieren, ist nicht einfach. Die Zahl verschiedener Tumorarten etwa ist so gross, dass jeder Betroffene im Prinzip unter einem eigenen Krebs leidet – Kategorien wie Brust-, Prostata- oder Lungenkrebs greifen zu kurz. Dank Computersystemen wie IBMs Watson können Ärzte die Genmutationen einer Leukämie-Patientin mit 20 Millionen Patientenakten vergleichen. Die Aufgabe, an der jeder Mensch wegen der Menge an Fällen scheitern würde, vermag der clevere Assistenzarzt Watson in zehn Minuten zu lösen. So geschehen in Japan, was einer 60-jährigen Leukämie-Patientin das Leben rettete.
«Big Data» nennt man die Verarbeitung von grossen, komplexen und sich schnell ändernden Datenmengen. Dies erst ermöglicht eine personalisierte Medizin, bei der jeder Patient eine exakt auf sein Leiden zugeschnittene Therapie erhält. Noch steht das Gesundheitswesen am Beginn des digitalen Transformationsprozesses – und Unternehmen und Institute vor einem Berg Arbeit: IBM etwa hat seine medizinische Forschung bisher auf die Volkskrankheiten Krebs und Diabetes ausgerichtet. Gegen andere Leiden weiss Watson noch wenig vorzubringen. Die Hoffnungen aber sind enorm. «Big Data» soll nicht nur Kranken, sondern auch Gesunden zugutekommen.
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Daten respektive Informationen waren für die medizinische Diagnose schon immer grundlegend: Ein Arzt checkt Blutwerte, nimmt Speichel- und Urinproben, er erstellt ein Elektrokardiogramm und Röntgenbilder, er fragt nach Art und Dauer der Beschwerden. Neu ist, dass diese Informationen besser zugänglich gemacht werden sollen. Mit ihrem letztjährigen Entscheid, elektronische Patientendossiers einzuführen, hat die Schweizer Politik die Zeichen der Zeit erkannt. Drei Jahre dürfen Spitäler warten und fünf Jahre Pflegeheime, bis sie sich dem System angeschlossen haben müssen. Das neue Regime wird Kosten sparen, weil Doppelspurigkeiten – etwa wiederholtes Röntgen – abgebaut werden. Wichtiger aber: Es wird zu besseren Diagnosen führen, weil keine Informationen mehr unter den Tisch fallen. Zwei Mängel bleiben: der Schweizer Föderalismus und die doppelte Freiwilligkeit.
Medien als Schulfach – jetzt!
Zwar ist die «Generation Touchscreen» in der Schweiz noch mehr Mythos als Realität: Kinder spielen lieber draussen, als auf dem Smartphone zu tippen. Dennoch soll sich die Schule mehr anstrengen, Medienkompetenz zu vermitteln.
Eine Analyse, erschienen am 29. September 2015 in der Südostschweiz sowie der Nordwestschweiz / Aargauer Zeitung.
Während das Internet für alte, mächtige Menschen wie Angela Merkel noch immer «Neuland» ist, sind sie mit ihm aufgewachsen: Kinder, die zwischen sechs und 13 Jahre alt sind und in die Primarschule gehen. Wie selbstverständlich tippen sie auf dem Smartphone rum, das zu Hause rumliegt, ohne Probleme scrollen sie im Internet und zoomen auf dem iPad. Kein Wunder: Während das Internet zum Ende des letzten Jahrtausends – als Merkel noch nicht deutsche Bundeskanzlerin, aber schon nicht mehr jung war – noch kaum eine Rolle spielte, ist es heute allgegenwärtig. Gaben 1997 in einer Umfrage des Schweizer Bundesamts für Statistik noch bloss sieben Prozent der Bevölkerung an, mehrmals pro Woche zu surfen, sind es heute 87.
Mehr als ein Drittel der Sechs- bis Siebenjährigen besitzt ein Handy, bei den 12- bis 13-Jährigen sind es bereits drei Viertel. «Das Handy ist das mit Abstand beliebteste Medium – selbst bei Kindern, die noch gar kein eigenes Gerät besitzen», sagt ZHAW-Forscher Daniel Süss. Auf die Frage, welches Medium sie behalten würden, wenn sie alle ausser einem abgeben müssten, antworteten denn auch mit Abstand am meisten der mehr als 1000 befragten Kinder im Primarschulalter mit «Handy». Welche Schlüsse sollten nun aus dieser ZHAW-Studie gezogen werden? In erster Linie der folgende: Die digitale Transformation der Welt muss endlich Auswirkungen auf die Lehrpläne haben, und zwar nicht nur an Gymnasien, sondern bereits in der Primarschule. Was im Leben der Kinder und Jugendlichen einen so hohen Stellenwert hat wie digitale Medien, gehört in den Unterricht – und zwar besser heute als morgen. Den Umgang mit digitalen Medien nicht zu lehren, ist geradezu fahrlässig.
«Verrätst du mir den PIN-Code deines Bankkärtchens?»
Der Bündner Simon Gantenbein kämpft an vorderster Front gegen das neue Nachrichtendienstgesetz, über das der Nationalrat in der Frühjahrssession befindet. Ein Porträt, erschienen am 16. März 2015 in der Südost-schweiz und der Nordwestschweiz / Aargauer Zeitung.
Simon Gantenbein spricht beim Gespräch in einem Café in der Berner Innenstadt derart laut und bestimmt, dass sich irgendwann die beiden Rentner vom Nebentisch erheben und zur Mässigung aufrufen. Gantenbein will warnen, will aufrütteln, er will, dass die Gesellschaft endlich die Augen öffnet. Denn er kann einfach nicht verstehen, dass viele Leute selbst in seinem Umfeld bloss mit den Achseln zucken, wenn sie erstmals vom neuen Nachrichtendienstgesetz hören. «Die freiheitlichen Werte unserer Gesellschaft sind in Gefahr», sagt er. «Nicht mehr und nicht weniger.»
Heute Montag und morgen Dienstag berät der Nationalrat das neue Nachrichtendienstgesetz, das dem Nachrichtendienst des Bundes (NDB) erlauben soll, private Räume zu verwanzen, Telefone abzuhören, E-Mails mitzulesen, per Staatstrojaner in fremde Computer einzudringen und Privatpersonen und Unternehmen zur Auskunft zu verpflichten (siehe Kasten). «Das Gesetz verleiht dem NDB sehr viele Kompetenzen», sagt Gantenbein. «Und das ohne greifende Kontrollinstanzen. Es ist, als gäbe man einem Fünfjährigen eine Motorsäge zum Spielen.»
Scharfsinnig und scharfzüngig zugleich
Am Sonntag ist der streitbare Zürcher Soziologe und Medienkritiker Kurt Imhof 59-jährig an Krebs verstorben. Ein Nachruf, erschienen am 3. März 2015 in der Südostschweiz.
In seinem Büro in Zürich-Oerlikon, in dem sich Bücher und Unterlagen bis unter die Decke stapelten, stand Kurt Imhof gerne am gekippten Fenster, vorbei fahrende Züge und vorbei eilende Studenten im Blick, eine Zigarette in der Hand. Natürlich rauchte er drinnen, natürlich war das verboten, natürlich wusste er die Rauchmelder zu überlisten. Regeln und Gesetzmässigkeiten, die ihn nicht überzeugten, ignorierte Imhof. Oder er prangerte sie lautstark an. Mitarbeiter von Online-Portalen nannte er «Kindersoldaten», Newsrooms «Verrichtungsboxen», er sprach von «Hexenverfolgung» und einer «Diktatur der Reichweite», er ortete eine Qualitätserosion der Schweizer Medien, wähnte Relevanzkriterien gegen die Klickgeilheit von Medienmachern und Publikum auf verlorenem Posten. Kurt Imhof bediente sich der Mechanismen, die er so stark kritisierte, er spitzte zu, skandalisierte, prangerte an. Der Aufschrei der Medienschar war stets gross, es ärgerten sich Chefredaktoren und Verleger im ganzen Land. Der Mahner kam ungelegen, weil Medien lieber mit dem Finger auf andere zeigen als auf sich selbst.
