Posts Tagged ‘Gesundheit’
Kontrollversagen in Pyeongchang
Grobe Verfahrensfehler an den Olympischen Winterspielen in Südkorea machen Dopingtests praktisch unbrauchbar. Das zeigen Recherchen der Republik und der ARD. Schweizer Dopingjäger reagieren schockiert: «Das ist eine Katastrophe!»
Eine Enthüllung, geschrieben gemeinsam mit den ARD-Kollegen Jürgen Kleinschnitger und Hajo Seppelt und erschienen am 7. Oktober 2018 im Onlinemagazin Republik.
62 Sekunden dauert eines der Handyvideos. Es zeigt ein karg eingerichtetes Wartezimmer im südkoreanischen Pyeongchang. Grauer Spannteppich, Schreibtisch, vier schwarze Klappstühle, Heizlüfter, ein weisser Kühlschrank mit offenem Vorhängeschloss. An der Wand ein kleines Schild mit weissen koreanischen Schriftzeichen auf blauem Grund. Darunter die englische und die französische Übersetzung: No Cellphone use – Téléphones interdits.
Hier warteten Betreuer während der Olympischen Winterspiele im vergangenen Februar auf die Rückkehr ihrer Sportlerinnen und Sportler, während diese in einem Nebenraum unter Aufsicht eines Dopingkontrolleurs ihre Urinproben abgaben.
Das Reglement besagt: Wenn sich Betreuer allein im Kontrollraum aufhalten, müssen strengste Sicherheitsvorkehrungen eingehalten werden. Das heisst in der Praxis: Dokumente dürfen nicht zugänglich sein, Schränke und Dopingproben-Aufbewahrung müssen verschlossen sein. Die Videos, die ein Betreuer an verschiedenen Tagen aufgenommen und der Republik sowie der ARD-Dopingredaktion zugespielt hat, zeigen jetzt, dass dem bei weitem nicht immer so war.
Vielmehr konnten sich die Begleitpersonen – meist Ärzte oder Physiotherapeuten – immer wieder über mehrere Stunden unkontrolliert in dem Zimmer aufhalten. Aus dem Betreuerstab wird bestätigt, dass es sich bei den auf Video festgehaltenen Situationen nicht um Einzelfälle handelte. Eher sei das die Regel gewesen – zumindest während der ersten Olympiatage. So sagt etwa Lukas Weisskopf, der die Spielerinnen der Schweizer Damen-Eishockeymannschaft in Pyeongchang als Arzt betreute, mit Blick auf die Videos: «Die Aufnahmen widerspiegeln, was meine Kollegen und ich in Pyeongchang gesehen haben.»
Fernand, ça va?
Er gehört zu den wichtigsten Regisseuren der Schweiz. Nun kämpft Fernand Melgar gegen die Drogendealer in seinem Quartier in Lausanne – und findet sich in einem Shitstorm wieder.
Ein Porträt, erschienen am 21. Juni 2018 in der Schweizer Ausgabe der deutschen Wochenzeitung DIE ZEIT.
Lässig stehen die Polizisten vor dem Eingang der Primarschule Saint-Roch in der Sonne. Die Pistole im Halfter, ein Lächeln im Gesicht. Die Typen, wegen derer die flics an diesem Freitag im Lausanner Viertel Maupas patrouillieren, sie sind nirgends zu sehen. Die Drogendealer, die hier herumlungern und auf Kundschaft warten, Dutzende waren es noch zwei Wochen zuvor, sind an diesem Tag gar nicht erst aufgetaucht. Auch sie haben mitbekommen: Nun weht ein anderer Wind.
Der Mann, der dafür verantwortlich ist, baut sich vor den Polizisten auf, um ihnen für ihre Präsenz zu danken: Es ist Fernand Melgar, 56. Seit vierzig Jahren wohnt er im Quartier. Vor ein paar Wochen hat ihn die Wut gepackt. Was dann geschah, das hat das Leben in diesen Straßen verändert – und sein eigenes erschüttert.
Ende Mai veröffentlichte Melgar, der mehrfach preisgekrönte Dokumentarfilmer, einen Gastbeitrag in der Zeitung 24 heures. «Es ist nicht hinnehmbar, dass die organisierte Kriminalität auf meiner Straße ein florierendes Geschäft aufrechterhält.» Und er stellt die Frage: «Müsste man nicht die Stadt Lausanne für jeden Jugendlichen, der an einer Überdosis stirbt, wegen fahrlässiger Tötung strafrechtlich verfolgen?» Ein paar Tage später legt der Empörte nach. Auf Facebook postet er Bilder von jungen, dunkelhäutigen Männern, die an den Außenmauern von Saint-Roch lehnen. «Das sind sechs der 22 Dealer, die am Montag um 15.30 Uhr vor der Schule darauf warten, dass die zehn- bis sechzehnjährigen Schüler herauskommen», schreibt er dazu. Politik und Polizei würden seit Jahren untätig zusehen.
Der Beitrag wird mehr als 8.000-mal geteilt, lokale Zeitungen und das welsche Radio und Fernsehen berichten darüber. Melgar wird in Diskussionssendungen eingeladen. 400 Menschen demonstrieren auf der Place Chauderon, einem der größten Drogenumschlagsplätze der Stadt, gegen das Nichtstun der Behörden. Und auf Facebook eskaliert, wie so oft, die Diskussion: Die Dealer gehören unter die Guillotine, heißt es. Einige rufen dazu auf, Bürgermilizen zu bilden, um die Händler zu verprügeln.
Melgar betritt er das Café Coquelicar mitten in Maupas. Seit Jahren verkehrt er hier, doch seit seinem Facebook-Post wird er als eine Art Winkelried verehrt und gefeiert. An den Nebentischen wird getuschelt, eine Rentnerin kommt auf Melgar zu, um ihm für seinen Mut zu danken: «Endlich sagt es einer. Du hast unsere volle Unterstützung, Fernand!»
Handy-Enthusiasten attackieren Strahlenschutz
Das Bundesamt für Kommunikation, Swisscom, Salt und Sunrise schlagen Alarm: Der strenge Strahlenschutz verhindere die Einführung der Mobilfunktechnologie 5G. Ist eine Anpassung nötig oder übergehen sie im Digitalisierungswahn die Warnungen von Ärzten?
Ein Hintergrundartikel, erschienen am 6. September 2017 in der Südostschweiz sowie der Aargauer Zeitung / Nordwestschweiz.
Die Frage spaltet National- und Ständerat, die meisten Parteien und selbst die Bundesverwaltung: Hat der im internationalen Vergleich strenge Schweizer Strahlenschutz nach wie vor seine Richtigkeit oder muss er aufgeweicht werden, damit das Land die technologische Entwicklung mitmachen kann? Die Frage gewinnt an Brisanz und Dringlichkeit, je näher die Einführung der neuen Mobilfunktechnologie 5G rückt. Noch dieses Jahr will der Bundesrat die Frequenzen für diese fünfte Generation von Mobilfunknetzen freigeben, 2018 wird sie die unabhängige Konzessions- und Regulierungsbehörde für das Fernmeldewesen (ComCom) vergeben. Schon 2020 könnte das 5G-Netz in Betrieb gehen. Experten erhoffen sich davon den Durchbruch des «Internets der Dinge» und von selbstfahrenden Autos.
Nun aber schlägt Philippe Horisberger, stellvertretender Direktor des Bundesamts für Kommunikation (Bakom), Alarm und fordert: «Wenn die Schweiz mit der Digitalisierung und dem Ausland Schritt halten und 5G einführen möchte, muss sie Abstriche beim Strahlenschutz hinnehmen.» Wenn ein ausländisches Mobilfunkunternehmen sein Netz auf 5G umstellen wolle, könne es bestehende Antennen aufrüsten, sagt er. «Hierzulande aber ist das unmöglich, weil der Strahlenschutz viel stärker ausgebaut ist – die maximal zulässigen Grenzwerte pro Antenne liegen bei uns zehnmal tiefer als im internationalen Durchschnitt.» Bei unveränderter Gesetzgebung könnten 90 Prozent der heute bestehenden Antennen auf Stadtgebiet nicht aufgerüstet werden, sagt Horisberger.
Bloss: Erst vor einem Jahr unternahm der Bund letztmals einen Versuch, die strenge Verordnung über den Schutz vor nichtionisierender Strahlung zu lockern – und scheiterte. Zwar hatte ihn der Nationalrat im Juni 2016 noch knapp mit 96:89 Stimmen unterstützt. Doch im Dezember begrub der Ständerat die Pläne nach einer emotional geführten Debatte hauchdünn mit 20:19 Stimmen. Auffallend: Mit Ausnahme von SP und Grünen, die beide an den tiefen Grenzwerten festhielten, sowie der BDP, die für einen weicheren Strahlenschutz votierte, hatte in der Grossen Kammer keine Partei geschlossen gestimmt.
Ist es politisch opportun, nach so kurzer Zeit einen neuen Anlauf für eine Gesetzesänderung zu nehmen? Ja, glaubt man im Bakom. «Der Bundesrat hatte sich vom Parlament den Auftrag erhofft, den Strahlenschutz zugunsten der 5G-Technologie zu senken, befindet sich seit dem negativen Entscheid des Ständerates aber in einer politischen Sackgasse», gibt Philippe Horisberger zu. Der einzige Ausweg führe nun über eine breite, öffentliche Diskussion. Gefordert seien vor allem die Netzbetreiber, die den Druck auf die Politik erhöhen und die Bevölkerung auf ihr «schizophrenes Verhalten» aufmerksam machen müssten. Rhetorisch fragt der Bakom-Vize: «Wie kann man einerseits in einer abgelegenen Berghütte Youtube-Videos streamen wollen und sich andererseits an minimer, gesundheitlich unbedenklicher Strahlung stören? Diese Haltung ist widersprüchlich.»
An der Frage, wie ungefährlich die Strahlung tatsächlich ist, scheiden sich freilich die Geister. «Die bisherigen Forschungsergebnisse verlangen eindeutig, unnötige Strahlenbelastung zu vermeiden», sagt Peter Kälin, Präsident des Vereins «Ärztinnen und Ärzte für den Umweltschutz». Die Strahlung verändere die menschlichen Zellen und sei potenziell krebserregend. Auch im Bundesamt für Umwelt (Bafu) teilt man die Sorglosigkeit des Bakom nicht.
Tschernobyl chic
Mit Touristen aus aller Welt und zwei Tourguides unterwegs in der Sperrzone: vom kontaminierten Kindergarten bis zum neuen, drei Milliarden Dollar teuren Sarkophag über Reaktor 4.
Ein Feature, erschienen in der Sommerausgabe von ERNST – das Gesellschaftsmagazin für den Mann.
«Bleib nicht zu lange an dieser Stelle stehen», warnt Igor. «Sonst musst du am Abend deine Schuhe am Checkpoint abgeben oder darfst die Sperrzone gar nicht mehr verlassen.» Mein ängstlich-skeptischer Blick scheint ihn zufriedenzustellen, jedenfalls lacht er jetzt übers ganze Gesicht. «Zeig mal her», sagt er und wirft einen Blick auf meinen Geigerzähler, der seit Minuten nervtötend piepst. «14,27 Mikrosievert – nicht schlecht!»
Igor Solomianiuk und ich stehen vor dem zerfallenen Haus in Kopatschi, in dem einst der Kindergarten des Dorfes untergebracht war, um uns herum zwei Dutzend Touristen aus aller Welt. Deutsche, Italiener, US-Amerikaner, Niederländer. Alle wollen sie den mysteriösen Ort sehen, den das Wirtschaftsmagazin «Forbes» vor ein paar Jahren zur «exotischsten Touristendestination der Welt» gekürt hat: den Reaktor 4 des Atomkraftwerks im ukrainischen Tschernobyl. Auf dem Hinweg aber haben wir erst einmal «die einzigartige Chance, im alten Kindergarten gruselige Fotos der Puppen zu machen», wie Igor gutgelaunt sagt. «Fünf Minuten für Erinnerungsbilder!» Mit Handys, Foto- und Videokameras stürmen wir ins Gebäude.
Hastig wird Kopatschi evakuiert an diesem 2. Mai 1986, sechs Tage nach der Katastrophe. Die wichtigsten Dokumente sowie Kleider für drei, vier Tage sollen die 1114 Dorfbewohner mitnehmen, sagen die Funktionäre, danach könnten sie zurückkehren in ihre Häuser. Doch sie dürfen nie wieder zurück. Jod-131, Cäsium-137, Strontium-90, Plutonium-241 und Americium-241 machen die Region unbewohnbar für Hunderte von Jahren. Bis auf den Kindergarten werden alle Häuser Kopatschis abgerissen oder niedergebrannt, die Überreste werden vergraben. So hoffen die Behörden die radioaktive Belastung zu senken. Tatsächlich aber gelangen die Substanzen auf diese Weise ins Grundwasser.
Die Dielen knacken, wo sie nicht von Glasscherben übersät sind, durch die kaputten Fenster des Kindergartens hört man die Vögel zwitschern. Vergilbte Notizhefte und Zeichnungen liegen überall auf dem Holzboden verstreut. Im Schlafsaal, in den sich die Kinder einst zum Mittagsschlaf zurückzogen, hat jemand eine Puppe auf ein Bettgestell gesetzt. Sie hat nur noch ein Glasauge. Klick. Klick. Klick. Wer fotografiert, versucht den Eindruck zu erwecken, er sei alleine hier. Alleine am Ort der grössten nuklearen Katastrophe. Menschenverlassenes Stillleben.
110 Euro kostet die Tagestour, die exklusive Selfies verspricht, Nervenkitzel, ein Date mit der Apokalypse. 16 386 Besucher aus 84 Ländern registrierte die Zonenverwaltung im Jahr 2015, im Jubiläumsjahr 2016 waren es mehr als doppelt so viele: 40 000 Gäste zwischen 18 und 89 Jahren seien im vergangenen Jahr mit einem der zwei grossen Tourenanbieter in die Sperrzone gereist, sagt Ekaterina Aslamova, die uns am Morgen gemeinsam mit Igor in Kiew begrüsste und uns mit den 22 Regeln vertraut machte, die wir heute zu befolgen hätten. Die Wichtigste: Im Freien soll nicht geraucht werden, weil das Risiko, radioaktive Partikel zu inhalieren, viel zu gross ist. Hiroshima, Verdun, Pompeji, Tschernobyl – manche Touristen ziehen Albträume Traumstränden vor. Bei Tripadvisor haben 318 User das Prädikat «ausgezeichnet» verliehen, 23 bezeichnen die Tour als «sehr gut». Kein Einziger, der unzufrieden wäre.
Mit «Big Data» statt Kantönligeist gegen Krebs
Computer, die in kürzester Zeit Millionen Informationen verarbeiten können, verändern das Gesundheitssystem von Grund auf. Für die Diagnose und Behandlung von Krankheiten können sie einen Quantensprung darstellen. Doch der Datenhunger löst auch Unbehagen aus.
Eine Analyse, erschienen am 11. August 2016 in der Südostschweiz sowie der Aargauer Zeitung / Nordwestschweiz.
Wer sich krank fühlt, googelt. Doch nicht nur der Einzelne zapft das globale Wissen an, wenn er alleine nicht mehr weiter kommt. Auch Ärzte tun das. Jeder Tumor, jedes Krankheitsbild ist einzigartig. Die richtige Diagnose zu treffen, sich für eine Behandlungsmethode zu entscheiden und Medikamente exakt zu dosieren, ist nicht einfach. Die Zahl verschiedener Tumorarten etwa ist so gross, dass jeder Betroffene im Prinzip unter einem eigenen Krebs leidet – Kategorien wie Brust-, Prostata- oder Lungenkrebs greifen zu kurz. Dank Computersystemen wie IBMs Watson können Ärzte die Genmutationen einer Leukämie-Patientin mit 20 Millionen Patientenakten vergleichen. Die Aufgabe, an der jeder Mensch wegen der Menge an Fällen scheitern würde, vermag der clevere Assistenzarzt Watson in zehn Minuten zu lösen. So geschehen in Japan, was einer 60-jährigen Leukämie-Patientin das Leben rettete.
«Big Data» nennt man die Verarbeitung von grossen, komplexen und sich schnell ändernden Datenmengen. Dies erst ermöglicht eine personalisierte Medizin, bei der jeder Patient eine exakt auf sein Leiden zugeschnittene Therapie erhält. Noch steht das Gesundheitswesen am Beginn des digitalen Transformationsprozesses – und Unternehmen und Institute vor einem Berg Arbeit: IBM etwa hat seine medizinische Forschung bisher auf die Volkskrankheiten Krebs und Diabetes ausgerichtet. Gegen andere Leiden weiss Watson noch wenig vorzubringen. Die Hoffnungen aber sind enorm. «Big Data» soll nicht nur Kranken, sondern auch Gesunden zugutekommen.
(…)
Daten respektive Informationen waren für die medizinische Diagnose schon immer grundlegend: Ein Arzt checkt Blutwerte, nimmt Speichel- und Urinproben, er erstellt ein Elektrokardiogramm und Röntgenbilder, er fragt nach Art und Dauer der Beschwerden. Neu ist, dass diese Informationen besser zugänglich gemacht werden sollen. Mit ihrem letztjährigen Entscheid, elektronische Patientendossiers einzuführen, hat die Schweizer Politik die Zeichen der Zeit erkannt. Drei Jahre dürfen Spitäler warten und fünf Jahre Pflegeheime, bis sie sich dem System angeschlossen haben müssen. Das neue Regime wird Kosten sparen, weil Doppelspurigkeiten – etwa wiederholtes Röntgen – abgebaut werden. Wichtiger aber: Es wird zu besseren Diagnosen führen, weil keine Informationen mehr unter den Tisch fallen. Zwei Mängel bleiben: der Schweizer Föderalismus und die doppelte Freiwilligkeit.