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Der Kampf der Verweigerer
Jahrzehntelang forderten Pazifisten vergeblich eine Alternative zum Militärdienst. Viele von ihnen gingen lieber ins Gefängnis als an die Waffen. Vor 25 Jahren gab ihnen das Stimmvolk recht – und sagte Ja zum Zivildienst.
Ein historischer Hintergrundartikel, erschienen am 12. Mai 2017 in der Südostschweiz sowie der Aargauer Zeitung / Nordwestschweiz.
Das Urteil war derart überraschend, dass Radio DRS in den Mittagsnachrichten ausführlich darüber berichtete: Statt wie üblich mit einer Haftstrafe von sechs bis neun Monaten bestrafte das Militärgericht Thun den jungen Ostschweizer Hansueli Trüb Anfang der Siebzigerjahre mit einem einzigen Monat in Halbgefangenschaft sowie der Entlassung aus der Armee – eine echte Sensation, wie sich der heute 65-Jährige erinnert. Wie so viele junge Männer seiner Generation hatte Trüb den Militärdienst aus Gewissensgründen verweigert. «Da sich mein Vater nach seinem Aktivdienst während des Zweiten Weltkriegs stark in der Friedensbewegung engagierte, gingen bei uns ständig Pazifisten ein und aus», sagt er. «Das hat mich geprägt.»
Dennoch absolvierte Trüb als «ziemlich angepasster» Jugendlicher erst den Jungschützenkurs, wie das damals üblich war. Mit der Konsequenz, dass er bei der militärischen Aushebung nicht wie gewünscht als unbewaffneter Sanitäter, sondern als Füsilier eingeteilt wurde. «Das konnte ich nicht hinnehmen», sagt Trüb. Um seinen Gewissenskonflikt – der angehende Lehrer wollte niemanden umbringen müssen, sondern Konflikte gewaltfrei beilegen – zu untermauern, leistete er fünf Monate freiwillig und ohne Bezahlung eine Art Zivildienst in einem Schulheim. Die Möglichkeit, dies offiziell anstelle des Militärdienstes zu tun, bestand zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht.
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Am 17. Mai 1992 – vor 25 Jahren – votierte das Stimmvolk mit einer satten Mehrheit von 82,5 Prozent für die Aufnahme eines Zivildienstartikels in die Bundesverfassung. «Der Abstimmungskampf verlief ruhig», erinnert sich der Aargauer alt EVP-Nationalrat Heiner Studer, der sich als langjähriger Präsident des Zivildienstverbandes enorm für die Sache engagierte. «Selbst höhere Armeekader und bürgerliche Politiker konnten damals gut mit einem Zivildienst leben: So schufen sie sich das Problem junger Männer, die grosse Mühe mit dem Militärdienst hatten, vom Hals.» Zudem seien sie froh gewesen, den Aufwand für Gerichtsprozesse für Militärverweigerer zu sparen.
Zuvor sei die Schweiz lange stark vom Mythos der geistigen Landesverteidigung des Zweiten Weltkriegs geprägt gewesen, sagt Studer. «Wer seine Dienstpflicht nicht erfüllte, galt als Landesverräter», so der 67-Jährige. Junge Deutsche hingegen konnten bereits ab 1961 zwischen Militär- und Zivildienst wählen – auch dies wohl nicht zuletzt aufgrund der Erfahrung des Weltkriegs. «Wer an der Front gekämpft hatte, wollte es seinen Söhnen ersparen, je wieder in einen Krieg ziehen zu müssen.»
Wenn Bundesräte auf Trump machen …
… wer würde sie dann stoppen? Auch in der Schweiz gibt es Versuche, die Machtfülle von Regierung und Verwaltung zu beschränken.
Ein Hintergrundartikel, erschienen am 10. Februar 2017 in der Südostschweiz sowie der Aargauer Zeitung / Nordwestschweiz.
Ein Präsident, der mit seiner Unterschrift unter nicht mal mit der eigenen Verwaltung abgesprochene Dekrete diplomatische Verwerfungen und weltweite Demonstrationen auslöst, der in den ersten Tagen im Amt die wichtigsten Projekte seines Vorgängers über den Haufen wirft, auf Twitter brüllt und kläfft und alle für ihn negativen Meldungen schlicht als «Fake News» abtut: Was sich gegenwärtig in den USA unter Donald Trump abspielt, ist mit der beschaulichen Schweizer Politik kaum vergleichbar.
Doch warum eigentlich nicht? Weshalb versucht niemals ein Bundesrat, die Macht seines Amtes in Trump’scher Manier auszunutzen? Zu verdanken ist das unserem fein austarierten politischen System, das seit 1848 grössten Wert auf Machtteilung legt – eine Erfolgsgeschichte. Trotzdem wird über Detailfragen bis heute gerungen: So arbeitet das Parlament aktuell eine Vorlage aus, mit der es den Einfluss des angeblich immer mächtigeren Bundesrates im Gesetzgebungsprozess begrenzen möchte. Doch der Reihe nach.
In der Schweiz ist die gegenseitige Kontrolle von Exekutive, Legislative und Judikative («Checks and Balances») stärker ausgeprägt als in den meisten anderen Ländern. Auch wenn sich die USA im 18. Jahrhundert mit der Begründung vom britischen König losgesagt hatten, er sei ein Tyrann – im Amt ihres Präsidenten bündelten sie sehr viel Macht. Ihm gaben sie Befugnisse, auch gegen und ohne das Parlament zu regieren: «Executive Orders» wie jener Erlass, mit dem Trump vor zwei Wochen ein Einreiseverbot für Menschen aus sieben muslimisch geprägten Ländern verhängte. Solche präsidentiellen Dekrete sind von den Behörden unverzüglich anzuwenden und nur durch Gerichte umzustossen.
Auch der Schweizer Bundesrat hat die Möglichkeit, den oft langwierigen demokratischen Prozess auszuhebeln: mit dem Rückgriff auf Notrecht. (…) Im Regierungsalltag freilich kann kein Bundesrat zum Tyrann werden: Jedes Mitglied wird von sechs Kollegen im Zaum gehalten, da alle wichtigen Entscheide im Kollegium gefällt werden. Zudem üben National- und Ständerat die Oberaufsicht über den Bundesrat, die Verwaltung und die Gerichte aus – niemand im Staat ist stärker als die 246 Parlamentarier, deren Hauptaufgabe die Gesetzgebung ist. So jedenfalls sieht es die Gewaltentrennung vor.
Viele Volks- und Ständevertreter allerdings beschweren sich, ihr Hebel gegenüber Regierung und der personell stark gewachsenen Verwaltung werde immer kürzer. Ihre Kritik: Letztere beiden nützten ihre Kompetenz, Verordnungen zu erlassen und so die vom Parlament ausgearbeiteten Gesetze anwendbar zu machen, zur Durchsetzung eigener Ziele.
Neues Urheberrecht: Ein einziger Flickenteppich
Seit fünf Jahren versucht der Bundesrat vergeblich, das veraltete Urheberrecht dem digitalen Wandel anzupassen. Nach einer gescheiterten Vernehmlassung steht er jetzt wieder auf Feld eins – und versucht die Gesetzgebung an untereinander zutiefst zerstrittene Interessengruppen zu delegieren.
Ein Hintergrundartikel, erschienen am 31. Januar 2017 in der Südostschweiz sowie in der Aargauer Zeitung / Nordwestschweiz.
Es ist ein Kreuz mit dem Fortschritt: Er ist einem immer einen Schritt voraus. Diese leidige Erfahrung macht das Justizministerium seit Jahren mit dem Urheberrecht. Kurz, nachdem 2008 die letzte Revision in Kraft getreten war, setzte Bundesrätin Simonetta Sommaruga im August 2012 eine neue Arbeitsgruppe zum Urheberrecht (Agur 12) ein. In diese berief sie unter anderem die im Verband Suisseculture vereinigten Kulturschaffenden, den Buchhändler- und Verleger-Verband, den Dachverband der Urheber- und Nachbarrechtsnutzer sowie die Stiftung für Konsumentenschutz.
Wenig überraschend scheiterte die Arbeitsgruppe, in der sich diametral unterschiedliche Vorstellungen bündelten, beim Versuch, einen Konsens zu finden. In der Vernehmlassung im vergangenen Jahr wurde selbst der letztlich ausgehandelte minimale Kompromiss regelrecht zerzaust: 1224 Stellungnahmen im Umfang von gesamthaft mehr als 8000 Seiten gingen ein, so viele wie kaum je zuvor bei einem Gesetzesentwurf. «Die aussergewöhnlich hohe Zahl der Stellungnahmen hat erneut gezeigt, dass es sich um ein anspruchsvolles Projekt handelt», sagt Emanuel Meyer vom zuständigen Institut für Geistiges Eigentum.
Der Bundesrat also sah sich auf Feld eins zurückgeworfen. Und was tat Sommaruga? Sie retournierte das Geschäft an die eilends reaktivierte Agur 12, die sie mit einigen Provider-Vertretern ergänzen, ansonsten aber unverändert liess. In wenigen Monaten schon will die Justizministerin Resultate sehen. Das Wunder aber dürfte auch 2017 ausbleiben. Vor der entscheidenden zweitletzten Sitzung der Agur 12 morgen Mittwoch nämlich liegen die Vorstellungen nach wie vor unversöhnlich weit auseinander, wie Recherchen der «Südostschweiz» zeigen – bei der Bibliothekstantième genauso wie beim «Text and Data Mining» oder dem Zweitveröffentlichungsrecht. (…)
Das Institut für Geistiges Eigentum und dessen oberste Chefin, Bundesrätin Sommaruga, werden von allen befragten Interessenvertretern kritisiert. (…) Dani Landolf, Geschäftsführer des Buchhändler- und Verlegerverbandes, sowie Suisseculture-Geschäftsführer Hans Läubli, die beide in der Agur 12 um einen Kompromiss feilschen, zweifeln inzwischen an Sinn und Zweck ihrer eigenen Arbeit. «Die Positionen in dieser Arbeitsgruppe gingen in den letzten Jahren bei nahezu jedem Thema derart weit auseinander, dass man sich schon fragt, ob wir uns da je finden werden», sagt Landolf. Läubli ergänzt: «Seit fünf Jahren diskutieren wir, ohne vorwärtszukommen.» Statt ihre Führungsverantwortung wahrzunehmen, verstecke sich Justizministerin Sommaruga hinter der Agur 12. «So hinkt die Schweizerische Gesetzgebung ständig den Entwicklungen hinterher. Man muss es klipp und klar sagen: Im Urheberrechtsbereich überfordert der digitale Wandel unsere Behörden.»
Open Access: Schweiz will Rückstand aufholen
Wissenschaftliche Literatur soll kostenlos online verfügbar sein. Darüber herrscht weltweit Konsens. In Deutschland wagen Universitäten nun den Hosenlupf mit den mächtigen Grossverlagen, die um ihre Renditen fürchten. Noch hinkt die Schweiz hinterher.
Ein Hintergrundartikel, erschienen am 20. Januar 2017 in der Aargauer Zeitung / Nordwestschweiz sowie tags darauf in der Südostschweiz.
Seit es Wikipedia gibt, hat Brockhaus ausgedient. «Die Zeit, in der man sich eine hervorragende Enzyklopädie von anderthalb Meter Umfang ins Regal stellt, um sich dort herauszusuchen, was man wissen will, scheint vorbei zu sein», bedauerte ein Verlagssprecher 2008. Wenig später war das altehrwürdige Nachschlagewerk für das bildungsnahe Bürgertum endgültig tot.
Fast zehn Jahre nach der Digitalisierung und Demokratisierung des Wissens wird nun auch die Wissenschaft umgekrempelt. Open Access heisst die Losung. Das bedeutet: Immer mehr Forscher publizieren ihre Ergebnisse auf für jeder- mann gratis zugänglichen Onlineportalen statt in Journals, die nur lesen darf, wer für viel Geld ein Abonnement kauft.
Bis anhin kassierten die den Markt dominierenden internationalen Grossverlage Elsevier, Springer und Wiley doppelt: Forscher bezahlten, damit renommierte Publikationen ihre Studien druckten – oft mehrere tausend Franken pro Artikel; Hochschulbibliotheken und -institute zahlten, damit ihre Angehörigen Zugriff auf die Publikationen erhielten. Die drei Verlage machten so jahrzehntelang enormen Profit – auf Kosten der öffentlichen Hand, welche die Forschung in aller Regel finanziert.
Opposition gegen dieses System wächst weltweit. In Deutschland ist der Streit in den letzten Wochen eskaliert: Unter Führung der Hochschulrektorenkonferenz liessen 60 Wissenschaftseinrichtungen den Vertrag mit Elsevier per Ende letzten Jahres auslaufen. Seit drei Wochen verweigert der Verlag im Gegenzug Universitäten von Aachen bis Würzburg den Zugang. In der Schweiz beobachtet man den Machtkampf aufmerksam. Ihn an der Seite der deutschen Kollegen zu führen aber traute man sich offensichtlich nicht zu: Dem Vernehmen nach verlängerte das Konsortium der Schweizer Hochschulbibliotheken den Vertrag erst gerade 2016, vorerst für ein Jahr. Weder beim Konsortium noch bei der federführenden ETH Zürich wollten sich Sprecher diese Woche zum Thema äussern – «wissenschaftspolitisch zu heikel».
«Der Umgang mit Terror ist eine Mutprobe»
Der Schweizer Psychoanalytiker und Terrorexperte Carlo Strenger rät zum offensiven Umgang mit Terroristen: Man müsse sie blossstellen, statt sich zu ängstigen.
Ein Interview, erschienen am 22. Dezember 2016 in der Südostschweiz und der Aargauer Zeitung / Nordwestschweiz.
Terror verfolgt ein Ziel: Man soll sich nirgends mehr und zu keinem Zeitpunkt sicher fühlen. Was macht das mit uns, Herr Strenger?
Carlo Strenger: Es macht mit uns, was wir zulassen – diese Erkenntnis ist ganz wichtig. Terroranschläge verängstigen die Menschen, sie lösen Angst und Zorn aus und verleiten uns dazu, Sündenböcke zu suchen. Doch so schlimm sie auch sind: Wir müssen solche Attentate in eine Relation setzen. Am Montag, als auf dem Berliner Weihnachtsmarkt zwölf Menschen starben, kamen in Deutschland bei Autounfällen viel mehr Menschen ums Leben. Ich meine das nicht zynisch, sondern als Rezept: Wir dürfen uns von Terroristen nicht terrorisieren lassen. Sonst geben wir ihnen genau das, was sie wollen.
Das ist schwieriger gesagt, als getan.
Das stimmt. Der Umgang mit Anschlägen ist eine Mutprobe. Terror stellt nicht nur die Bürger vor eine schwere Prüfung, sondern vor allem auch die in der Verantwortung stehenden Politiker.
Wie gehen diese bisher damit um?
In Deutschland glücklicherweise ziemlich besonnen. Politiker jenseits der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD) lassen sich bis anhin genauso wenig aus der Ruhe bringen wie die Qualitätspresse. Rational und kühl zu reagieren, ist psychologisch enorm wichtig. Die Politik kann Terror nicht einfach ausradieren. Ihre vordringliche Aufgabe ist es daher, dafür zu sorgen, dass die Bevölkerung nicht dem Fremden- oder Islamhass verfällt. Denn sonst erreichen die Terroristen, was sie wollen: ein Auseinanderklaffen zwischen dem Islam und dem Westen und einen zivilisatorischen Krieg dieser zwei Welten.
Als Gegenrezept haben Sie das Prinzip der «zivilisierten Verachtung» vorgeschlagen: Liberale und Linke sollen von der politischen Korrektheit wegkommen und sich trauen, nicht-westliche Werte und Kulturen zu kritisieren. Weil sie sonst das Feld den Rechtspopulisten überlassen?
Genau. Zivilisierte Verachtung, nicht Angst ist das richtige Rezept. Und zwar all jenen gegenüber, die unsere Werte mit Füssen treten: islamistischen Terroristen genauso wie einheimischen Rechtspopulisten. Wir müssen das Handeln und die Phrasen jener Personen, die einen apokalyptischen Kriegszustand heraufbeschwören und so zur Eskalation beitragen, als moralisch falsch und als politisch unverantwortlich brandmarken. Wir müssen jene, die von der Bewirtschaftung der Angst und des Zorns leben, blossstellen.


