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Den Kompass verloren
Ein Thema dominiert Bundesbern und die Schweizer Medienlandschaft: Eine Bundesangestellte hat Nacktaufnahmen von sich auf Twitter publiziert. Stunden nach dem NZZ-Bericht wird sie freigestellt. Was ist vom Aufruhr zu halten?
Ein Kommentar, erschienen am 7. August 2014 in der Südostschweiz sowie auf www.suedostschweiz.ch.
Dass das mediale Geschäft eines mit der Aufmerksamkeit ist, ist hinlänglich bekannt. Neu ist, dass selbst Vorzeigehäuser wie die «Neue Zürcher Zeitung» primär darauf abstellen, wenn sie ihre Themen setzen und damit die politische Agenda prägen. «Nackt-Selfies aus dem Bundeshaus», titelte das Traditionsblatt gestern. Eine Bundeshaus-Angestellte twittere regelmässig Nacktbilder aus ihrem Büro. «Auf den Bildern sind mitunter ihre primären und sekundären Geschlechtsmerkmale zu sehen.»
Kein Wunder, wurden die Journalisten der Onlineportale nervös. «Ihr habt drauf gewartet, wir liefern: Das ist Porno-Sekretärin A. aus dem Bundeshaus», twitterte Thomas Benkö, stellvertretender Chefredaktor von «Blick am Abend», am Mittag. Einer seiner Journalisten – der voriges Jahr mit einem Förderpreis für investigativen Journalismus ausgezeichnete Florian Imbach – hatte das inzwischen gesperrte Twitter-Profil der Frau ausfindig gemacht. «So wild treibts die Porno-Sekretärin!», titelte «blick.ch» und stellte eine Bildstrecke mit den freizügigen Fotos online, die Augen verpixelt.
Die Empörungsmaschinerie war nun endgültig angesprungen. SVP-Politiker Lukas Reimann forderte die Entlassung der Frau, FDP- Nationalrat Andrea Caroni teilte mit, er sei zwar «überhaupt nicht prüde», doch: «Das geht nicht.» Selbst die Nachrichtenagentur Reuters berichtete nun über das #Selfiegate, und «20min.ch» schloss nach 443 Leserzuschriften die Kommentarfunktion. Scheinheilig tat derweil die NZZ: «Auch Angestellte im Bundeshaus haben Anrecht auf Persönlichkeitsschutz», twitterte sie. Nun denn: Das hätte ihr auch früher einfallen können. Schliesslich schuf die «alte Tante» die Basis, um einmal mehr eine Sau durchs Dorf zu treiben. Und so verwunderte es letztlich nicht, dass der Bund die Frau am Abend freistellte, bis «die Faktenlage geklärt und über personalrechtliche Folgen entschieden» sei.
Die Sachlage aber präsentiert sich wohl wie folgt: Die Bilder der Dame waren zwar öffentlich zugänglich – das wissen ihre rund 11 700 Follower –, stehen aber nicht in Zusammenhang mit ihrer Arbeit (selbst wenn eines der Fotos tatsächlich am Arbeitsplatz auf genommen worden sein sollte). Wohlgemerkt: Die Frau brachte auf ihrem Twitter-Profil keinerlei Hinweis auf ihren Beruf an. Presseberichte, die sie über ihr nächstes Umfeld hinaus erkennbar machen, verletzen ihre Privatsphäre. Es ist nicht neu, doch es bleibt beklagenswert: Medien haben im Kampf um Aufmerksamkeit und Klicks ihren Kompass verloren. Sogar die NZZ.
Politische Lachnummern
Statt an der Frühjahrssession über die Geschicke des Landes zu bestimmen, feiern gewisse Politiker lieber Fasnacht. Das ist untragbar.
Ein als Kolumne getarnter Kommentar, erschienen am 9. März 2014 in der Schweiz am Sonntag (und tags darauf in der Nordwestschweiz / Aargauer Zeitung).
Am Mittwoch posierten sie in der «Südostschweiz» und der «Aargauer Zeitung» in ihren Fasnachtsmasken, die Pappnasen der CVP. Er ziehe jeweils mit seiner Schnitzelbank-Gesellschaft von Beiz zu Beiz, erzählte der Solothurner Ständerat Pirmin Bischof. Und die Luzerner Nationalrätin Ida Glanzmann bekannte freimütig, am Dienstag sogar die Session geschwänzt zu haben. «Die Fasnacht ist wie ein Virus, der einen packt und nicht mehr loslässt», sagte sie. Und schien noch nicht mal ein schlechtes Gewissen zu haben.
Man könnte mit den Politikern mitlachen, wenn ihr Gebaren nicht zum Heulen wäre. Wer die Session wegen eines Fasnachtsumzugs schwänzt, nimmt seine politische Verantwortung nicht ernst. Die Session ist ja nicht bloss ein lässiges Stelldichein, bei dem Entscheide ohne jede Tragweite gefällt würden. Als Glanzmann ausschlafen musste, weil sie die ganze Nacht als Schlagersängerin Maja Brunner verkleidet durch die Luzerner Gassen gezogen war, diskutierte der Nationalrat etwa erstmals über die Folgen der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative.
Am Donnerstag, als der Nationalrat ganz knapp per Stichentscheid des Präsidenten eine Lockerung der Waffenexportbestimmungen beschloss, war die Fasnacht in der Innerschweiz zwar vorbei. Glanzmann aber fehlte erneut. Statt die Interessen ihrer Wähler im Rat vertrat sie jene der CVP am Kongress der Europäischen Volkspartei in Dublin. Da Glanzmann wohl im Sinne der Waffenlobby gestimmt hätte, änderte ihr Fernbleiben nichts am Ergebnis. Doch es steht sinnbildlich dafür, wie ernst gewisse Politiker – nicht nur aus der CVP – den politischen Betrieb nehmen. Es gibt zu viele Clowns in Bundesbern.
Einfach mal verreisen
Während des Sommerlochs tun sich Journalisten besonders schwer, Schlagzeilen zu produzieren, die länger als bis zur nächsten Ausgabe haltbar sind. Weshalb es Universitätsprofessoren genau richtig machen, wenn sie während der ereignisarmen Sommermonate untertauchen.
Eine Kolumne, erschienen am 14. Juli 2013 in der Schweiz am Sonntag (und tags darauf in der Nordwestschweiz / Aargauer Zeitung).
Wo sind die Wissenschafter, die fern von Parteiinteressen Analyse und Einordnung bieten könnten? Der Basler Staatsrechtler Markus Schefer weilt in den USA, die Luzerner Ordinaria Martina Caroni ist auf einer mehrtägigen Bergtour. Die Zürcher Professoren Biaggini, Diggelmann, Kiener, Kley und Uhlmann sind genauso abgetaucht wie Daniela Thurnherr von der Universität Basel oder der Berner Walter Kälin. Sie alle machen es richtig: Im Juli sollte man verreisen. Durchatmen und Abstand gewinnen. Den Politikern täte eine Auszeit gut. Und den Journalisten auch.
Weiss statt Schwarz
Das Ende des Bankgeheimnisses ist nah: Im Steuerstreit bleibt der Schweiz nur der geordnete Rückzug – wie 1515 bei Marignano.
Ein Kommentar, erschienen am 7. März 2012 auf der Facebook-Präsenz der ZEIT Schweiz.
Manch Übereifriger hat den Streit zwischen der Schweiz und den USA in den vergangenen Wochen zum Steuerkrieg hochstilisiert. Solche Begrifflichkeiten sind mit Sicherheit übertrieben, sitzt man doch auch in Zukunft am Verhandlungstisch und nicht im Schützengraben. Dennoch: Wagen wir den Gedankengang und überlegen uns, welche Optionen der Schweiz in dieser „Schlacht“ bleiben.
Vor 497 Jahren sahen sich die Eidgenossen in der Schlacht von Marignano einem Feind gegenüber, der zahlenmäßig überlegen war, der aber auch wusste, dass die Schweiz wenig in der Hinterhand hielt. Gleich verhält es sich in der gegenwärtigen Steuerdebatte: Die Niederlage der Schweizer, geschwächt nicht nur durch erzwungene Zugeständnisse in der jüngeren Vergangenheit, sondern auch ungeeint im öffentlichen Auftritt, ist absehbar.
Trink nicht in Bus und Bahn
HAMBURG Nun wird hart durchgegriffen: Wer in Bussen und Bahnen säuft, muss fortan mit Ärger und demnächst mit einem Bußgeld rechnen. Aber was soll das Verbot bringen?
Ein Kurzessay, erschienen am 1. September 2011 in der tageszeitung.
Hamburg nimmt den Kampf auf gegen den Alkohol. In öffentlichen Verkehrsmitteln dürfen ab heute keine Getränke mehr konsumiert werden, die dafür sorgen können, dass Leute ausrasten und alle Konventionen vergessen: dass sie in die Ecke urinieren, über Sitzbänke kotzen, Menschen anlallen oder verprügeln. Wer gegen das Alkoholverbot verstößt, wird zunächst nur verwarnt. Ab dem1. Oktober aber muss der Kriminelle mit einer Buße von 40 Euro rechnen. Aber warum eigentlich?
In Berlin ist Alkohol im öffentlichen Nahverkehr erlaubt,weil es zum „Lifestyle“ der Stadt gehöre, wie ein Sprecher des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg sagt. In Hamburg soll das anders sein. Das Alkoholverbot ist der bisher letzte Schritt der Offensive einer Stadt, die sich säubern will: weg mit Bierflaschen, weg mit Kippen, weg mit Pennern und Obdachlosen. Was das Erscheinungsbild stört, wird verfolgt.
Spiessig und hinterwäldlerisch
Musste CDU-Politiker Christian von Boetticher wegen seiner Affäre mit einer 16-Jährigen zurücktreten? Keine Gesetzesverletzung, keine Strafe – von Boetticher hat sich nichts zuschulden kommen lassen.
Ein Kommentar, erschienen am 16. August 2011 in der tageszeitung.
Christian von Boetticher, bis gestern designierter CDU-Spitzenkandidat für die Landtagswahl in neun Monaten, mag ein Opfer seiner Naivität sein. Dass die sexuelle Beziehung zu einer Minderjährigen ihn die politische Karriere kostet, darf nicht überraschen. Dennoch sagt es mehr aus über die Funktionsweise einer sensationsgeilen Presse und einer Öffentlichkeit, der der Blick fürs Wesentliche abhanden gekommen ist. Politiker werden nicht mehr nach Leistungskriterien bewertet. Die Frage ist nicht, ob ein Amtsträger gut regiert, ob er hält,was er vor der Wahl versprochen hat. Oder ob er einen sinnigen,würdigen Wahlkampf bestreitet. Lieber wird mit dem Teleobjektiv in fremde Schlafzimmer gezoomt. Wichtig ist nicht mehr, was im Regierungszimmer vonstatten geht. Entscheidend sind die Bettgeschichten.
Eigentlich aber geht es niemanden etwas an, mit wem Christian von Boetticher unter der Bettdecke verschwindet – solange er sich dabei nicht strafbar macht. An Politiker höhere moralische Ansprüche als an „normale“ Menschen zu stellen, ist heuchlerisch. Sobald ein Prominenter über eine Affäre stolpert, wird mit dem Finger auf ihn gezeigt. Auch wenn er keine Gesetze verletzt hat – sondern höchstens ein Tabu und vage Sittlichkeitskonventionen. In einer zivilisierten Welt mit einer fortschrittlichen Gesetzgebung sollten die Rechtssätze jedoch den gängigen Normvorstellungen entsprechen. Keine Strafe ohne Gesetz – das wussten schon die antiken Römer. Auch wenn von Boetticher keine Strafverfolgung fürchten muss, ist er hart bestraft worden. Sein steiler Aufstieg ist zu Ende, politisch ist er bankrott.

